Dieser Lebensbericht ist der
erste einer ganzen Reihe aus der Familie Wüst - Bulcke.
Carl Theodor Gotthilf Wüst,
geboren 06.02.1808 in Danzig, war Pfarrer in Pröbbernau auf der Nehrung
von 1833 bis 1850 und dann bis 1876 in Güttland, Landkreis Dirschau. Er
starb dort am 29.12.1876.
Es ist nicht bekannt,
wann Carl Theodor Gotthilf Wüst
den Lebensbericht geschrieben hat; die Vermutung liegt nahe, dass dies
zwischen 1870 und 1876 erfolgte.
Der Bericht endet
abrupt ca. 1835. Ob der Tod Carl Theodor Gotthilf Wüst
gehindert hat, ihn zu vollenden oder ob die Folgeseiten verloren
gegangen sind, ist unbekannt. Ein Trost ist der 35
Jahre später geschriebene ausführliche Bericht des Sohnes Dr. Ernst
Leberecht Wüst über seinen Vater.
Die Erstellung des
Berichtes erfolgte natürlich handschriftlich. Irgendwann wurde er per
Maschine abgeschrieben, jetzt gescannt und ausgelesen. Alle Schritte
provozieren Fehler. Deswegen ist nicht immer klar, was damalige Schreibweise
war und was spätere Lese- und Tippfehler. Hier wurde nur sehr behutsam
redigiert.
Die Familien Wüst und Bulcke stehen in
verwandtschaftlicher Beziehung zu den Wannows. Carl Theodor Gotthilf Wüst
erscheint deswegen auch in den Veröffentlichungen
Ich heiße Carl Theodor Gotthilf Wüst. Ich bin geboren zu
Danzig 1808 den 6. Februar und getauft in der St. Catharinen Kirche den
21. Taufzeugen waren:
1.) Friedrich Vergin, Schlossermeister
2.) Georg Benjamin Schulz, Schumachermeister
3.) Frau Karoline Eggert, geb. Sommerfeld
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Mein Vater war Bürger und Tischlermeister in Danzig:
Johann Caspar Wüst, ev. Confession, geboren 1770 den 9. Mai. Sein Vater,
der aus dem Elsass stammte, war schon früh gestorben und hatte eine
Witwe mit vielen Kindern in großer Dürftigkeit hinterlassen. Die meisten
Kinder starben früh, nur eine Schwester meines Vaters, in Danzig an
einen Schneidermeister Haak verheiratet, erreichte ein hohes Alter von
nahe 90 Jahren. Die Mutter meines Vaters war eine geborene Aurich, die
als Witwe lange Zeit bei ihrem Bruder dem Tischlermeister Aurich in
Langefuhr bei Danzig lebte, sich einer seltenen, dauernden Gesundheit
erfreute und eine unverwüstliche Rüstigkeit besaß. Trotz aller
Wechselfälle des Lebens, trotz aller harten Schicksalsschläge und der
erschütterndsten Ereignisse (durch welche traurige Kriegszeiten musste
sie hindurch!) war sie stets heiter und guter Dinge, obwohl oft der
letzte Groschen ausgegeben war! Mein Vater besuchte sie wöchentlich,
versorgte sie mit dem Nöthigen und nahm sie, als ihr letzter Bruder in
Langefuhr gestorben war, in sein Haus nach Danzig, wo er sie bis an
ihren Tod verpflegte. Sie wurde über 86 Jahre. Krank war sie wohl nie.
Sie war bis ins höchste Alter in vollem Besitze aller ihrer Sinne; ihr
fehlte kein Zahn, sie hatte kein graues Haar und sagte oft scherzend zu
uns Großkindern, wenn wir uns darüber wunderten, daß sie keine grauen
Haare habe "dies sei ja auch garnicht nöthig". Sie erzählte gerne von
alten Zeiten und es hatte keinen geringen Reiz für uns, wenn sie Scenen
aus dem Siebenjährigen Kriege u.s.w. in ihrer Weise uns darstellte. Sie
starb, irre ich nicht, 1825 oder 1826. Wir fanden sie eines Morgens todt
im Bette, ohne alle Spuren eines Todeskampfes. Sie hatte sich den Abend
vorher gesund niedergelegt.
Meine Mutter, ebenfalls evangelisch, hiess Johanna Lewina
und war eine Tochter des Maurermeisters Rehn zu Danzig. Ihre Eltern habe
ich nicht gekannt. Meine Mutter hatte ausgezeichnete Eigenschaften des
Herzens und Geistes. Sie war überaus friedliebend und nachsichtig. Nie
sprach sie von jemand etwas Böses und bedeckte die Fehler Anderer mit
einer fast an Ängstlichkeit grenzenden Schonung. Sie war durchaus
gottesfürchtig, und hatte für geistliche Dinge eine ganz besondere
Vorliebe. Lange Predigten konnte sie wiederholen, sämtliche biblische
Geschichten hatte sie vollkommen inne, es gab wenige Lieder des schönen
alten Gesangbuches, die sie nicht wörtlich auswendig konnte, und, was
ich stets am meisten bewundert habe, war die Leichtigkeit, mit der sie
fast alle, auch die am schwersten und ungewöhnlichsten Melodien mit
schöner Stimme - sie war überhaupt sehr musikalisch - ohne alle Einhilfe
sang. Meine Mutter interessierte sich für alles Geistige und Sinnige.
Ein praktischer Blick war ihr weniger eigen. Sie war ungemein beliebt
und hat wohl schwerlich jemals einen Feind gehabt, eben so wenig wie sie
selbst wohl jemals feindselige Gesinnung gegen irgendwen bei sich
herumgetragen hat. Sie erfreute sich einer dauernden Gesundheit bis ins
höchste Alter. Sie war eigentlich nie krank. Sie hatte keine anderen
Verwandten als drei Halbschwestern : 1.) Constanze 2.) Philippine 3.)
Auguste Woldt. (Tante Stanzchen, Tante Pinchen und Tante Gustchen
genannt.) Diese drei Schwestern besassen ein eigenes Haus auf dem
Altstädtischen Graben und ein kleines Vermögen, von dem sie zur Noth
leben konnten.
Sie wohnten ihr ganzes Leben lang zusammen. Alle drei
waren von Gott sehr schwer geprüft. Die Älteste litt in furchtbarem
Grade an der Gicht und war vielleicht 30 Jahre lang so gelähmt, daß sie
nur auf Krücken gehen und ihr Haus nie verlassen konnte. Sie
beschäftigte sich sehr viel mit Lektüre geistlicher Bücher. Sie wurde
etwa 80 Jahre alt. Die zweite trug ihr ganzes Leben hindurch einen
tiefen Gram im Herzen. Als blühende Jungfrau war sie verlobt mit einem
jungen, sehr talentvollen Kaufmann namens Balewski. Dieser war in
Handelsangelegenheiten einige Jahre in Russland, bestimmte von
Petersburg aus den Tag seiner Abreise und stellte in einem sehr
zärtlichen Schreiben den Tag der Hochzeit in ganz nahe Aussicht.
Sehnsuchtsvoll erwartete ihn die Braut am bestimmten Tage; er kam aber
nicht, und kam überhaupt nie wieder! Genaue Nachforschungen ergaben, daß
er an dem bezeichneten Tage wirklich von Petersburg abgereist sei! Da er
bedeutende Geldsummen bei sich führte, ist er wahrscheinlich unterwegs
ermordet worden. Die unglückliche Tante hatte noch bis ins höchste Alter
eine leise Hoffnung, ihren Geliebten noch einmal hienieden
wiederzusehen! Sie überlebte die beiden Schwestern und hatte das
Unglück, im Alter von etwa 74 Jahren noch den Fuß zu brechen. Bald nach
der Heilung starb sie. Die jüngste Tante, Gustchen, die einmal sehr
schön gewesen, hatte das Unglück gehabt, als 20jähriges, lebensfrohes
Mädchen ein Auge zu verlieren; eine Operation, die ein sehr geschickter
Arzt vollzog, war so unglücklich, daß das andere gute Auge ebenfalls
verloren ging und daß völlige Blindheit eintrat! Nicht einmal den
Schimmer des Sonnenlichtes konnte sie sehen! In dieser furchtbaren Nacht
verlebte sie nun ihr ganzes ferneres Leben; sie wurde auch nahe 70 Jahre
alt. Sie beschäftigte sich in ihrer Blindheit mit vielen Handarbeiten,
namentlich mit Stricken von Strümpfen und Handschuhen. Teilweise
erhielten diese drei Tanten ihre Verpflegung aus meinem elterlichen
Hause. Jeden Sonntag, auch sonst häufig, wurden Speisen und Getränke
"nach jenem Hause" gebracht. Meine Mutter war unzählige Male dort, um zu
trösten und zu erfreuen. Sie wurde von allen drei Schwestern zärtlich
geliebt. Ebenso waren wir Kinder, da das elterliche Haus ganz in der
Nähe auch auf dem Altstädtischen Graben dem Hausthore gegenüber lag, in
unserer Jugend täglich eine kürzere oder längere Zeit bei den Tanten,
die uns alles mögliche Gute zufliessen liessen. Ja, sie darbten sich
selbst so Manches ab, um uns nur kleine Summen zuzuwenden.
Meine Eltern waren außerordentlich kirchlich. Jeden
Sonntag ohne irgend eine Ausnahme, besuchten sie die Kirche; meine
Mutter sehr häufig Vor- und Nachmittag. Nur in den Fällen einer
Krankheit, die freilich zu den größten Seltenheiten gehörten, versäumten
die Eltern den Besuch des Gotteshauses. "Bete und arbeite" war ihre
Losung. Ich erinnere mich nicht, die Eltern je untätig gesehen zu haben.
Das Geschäft des Vaters war wohl nie glänzend, aber doch immer der Art,
daß er die Familie standesgemäß erhalten und uns Kindern eine
ordentliche Erziehung angedeihen lassen konnte. Der Vater war äusserst
pünktlich; es mußte alles auf den Glockenschlag geschehen. So war er
auch in seinem Geschäfte, alle Zahlungen erfolgten prompt sofort. Er war
gewissenhaft und gerecht, oft zwar scheinbar sehr hart und rauh, aber
dabei doch von Allen geachtet, von Vielen freilich auch gefürchtet.
Welche Achtung seine Gewerksgenossen ihm zollten beweist der Umstand,
daß er das Ehrenamt eines "Ältermannes" (Obermeister) fünf Mal (ein in
Danzig wohl nie dagewesener Fall) während seines Lebens bekleidete. In
den letzten Jahren betrieb er sein Geschäft nicht mehr, er hatte sich in
Ruhe begeben. Außer seinem Hauptgeschäft war Vater als Entrepreneur des
Aufbaues der Dominikbuden während eines Zeitraumes von fast 50 Jahren in
ganz Danzig allgemein bekannt.
Im Jahre 1825 hatten meine Eltern das Unglück, durch eine
in der Nacht entstehende Feuersbrunst ihre Hintergebäude, in denen
Werkstatt und Holzvorräte befindlich waren, zu verlieren. Ein Mensch
verbrannte beim Feuer, ein Herr Schmidt, Registrator aus dem Danziger
Stadtgericht. Da Vater in keiner Feuerkasse versichert war, so traf ihn
dieser Verlust sehr schwer; indessen schenkte Gott den Eltern ein im
Unglück ergebenes Herz. Eine allgemeine Teilnahme zeigte sich und von
vielen Seiten floss den Eltern namhafte Unterstützung zu. Der Vater
kaufte darauf ein Haus in der Schmiedegasse Nr. 100, das wir bald
bezogen. Das alte Haus wurde verkauft.
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Johann Caspar Wüst
* 1770, † 1854
Bürger der Stadt Danzig, Tischlermeister und Ältermann |