Lebensberichte & Familienchroniken

Carl Theodor Gotthilf Wüst (1808 - 1876)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- selbst geschriebener Lebensbericht

12.2019
 

 

Dieser Lebensbericht ist der erste einer ganzen Reihe aus der Familie Wüst - Bulcke.

Carl Theodor Gotthilf Wüst, geboren 06.02.1808 in Danzig, war Pfarrer in Pröbbernau auf der Nehrung von 1833 bis 1850 und dann bis 1876 in Güttland, Landkreis Dirschau. Er starb dort am 29.12.1876.

Es ist nicht bekannt, wann Carl Theodor Gotthilf Wüst den Lebensbericht geschrieben hat; die Vermutung liegt nahe, dass dies zwischen 1870 und 1876 erfolgte.

Der Bericht endet abrupt ca. 1835. Ob der Tod Carl Theodor Gotthilf Wüst gehindert hat, ihn zu vollenden oder ob die Folgeseiten verloren gegangen sind, ist unbekannt. Ein Trost ist der 35 Jahre später geschriebene ausführliche Bericht des Sohnes Dr. Ernst Leberecht Wüst über seinen Vater.

Die Erstellung des Berichtes erfolgte natürlich handschriftlich. Irgendwann wurde er per Maschine abgeschrieben, jetzt gescannt und ausgelesen. Alle Schritte provozieren Fehler. Deswegen ist nicht immer klar, was damalige Schreibweise war und was spätere Lese- und Tippfehler. Hier wurde nur sehr behutsam redigiert.

Die Familien Wüst und Bulcke stehen in verwandtschaftlicher Beziehung zu den Wannows. Carl Theodor Gotthilf Wüst erscheint deswegen auch in den Veröffentlichungen

Ich heiße Carl Theodor Gotthilf Wüst. Ich bin geboren zu Danzig 1808 den 6. Februar und getauft in der St. Catharinen Kirche den 21. Taufzeugen waren:

1.) Friedrich Vergin, Schlossermeister

2.) Georg Benjamin Schulz, Schumachermeister

3.) Frau Karoline Eggert, geb. Sommerfeld

 

Mein Vater war Bürger und Tischlermeister in Danzig: Johann Caspar Wüst, ev. Confession, geboren 1770 den 9. Mai. Sein Vater, der aus dem Elsass stammte, war schon früh gestorben und hatte eine Witwe mit vielen Kindern in großer Dürftigkeit hinterlassen. Die meisten Kinder starben früh, nur eine Schwester meines Vaters, in Danzig an einen Schneidermeister Haak verheiratet, erreichte ein hohes Alter von nahe 90 Jahren. Die Mutter meines Vaters war eine geborene Aurich, die als Witwe lange Zeit bei ihrem Bruder dem Tischlermeister Aurich in Langefuhr bei Danzig lebte, sich einer seltenen, dauernden Gesundheit erfreute und eine unverwüstliche Rüstigkeit besaß. Trotz aller Wechselfälle des Lebens, trotz aller harten Schicksalsschläge und der erschütterndsten Ereignisse (durch welche traurige Kriegszeiten musste sie hindurch!) war sie stets heiter und guter Dinge, obwohl oft der letzte Groschen ausgegeben war! Mein Vater besuchte sie wöchentlich, versorgte sie mit dem Nöthigen und nahm sie, als ihr letzter Bruder in Langefuhr gestorben war, in sein Haus nach Danzig, wo er sie bis an ihren Tod verpflegte. Sie wurde über 86 Jahre. Krank war sie wohl nie. Sie war bis ins höchste Alter in vollem Besitze aller ihrer Sinne; ihr fehlte kein Zahn, sie hatte kein graues Haar und sagte oft scherzend zu uns Großkindern, wenn wir uns darüber wunderten, daß sie keine grauen Haare habe "dies sei ja auch garnicht nöthig". Sie erzählte gerne von alten Zeiten und es hatte keinen geringen Reiz für uns, wenn sie Scenen aus dem Siebenjährigen Kriege u.s.w. in ihrer Weise uns darstellte. Sie starb, irre ich nicht, 1825 oder 1826. Wir fanden sie eines Morgens todt im Bette, ohne alle Spuren eines Todeskampfes. Sie hatte sich den Abend vorher gesund niedergelegt.

Meine Mutter, ebenfalls evangelisch, hiess Johanna Lewina und war eine Tochter des Maurermeisters Rehn zu Danzig. Ihre Eltern habe ich nicht gekannt. Meine Mutter hatte ausgezeichnete Eigenschaften des Herzens und Geistes. Sie war überaus friedliebend und nachsichtig. Nie sprach sie von jemand etwas Böses und bedeckte die Fehler Anderer mit einer fast an Ängstlichkeit grenzenden Schonung. Sie war durchaus gottesfürchtig, und hatte für geistliche Dinge eine ganz besondere Vorliebe. Lange Predigten konnte sie wiederholen, sämtliche biblische Geschichten hatte sie vollkommen inne, es gab wenige Lieder des schönen alten Gesangbuches, die sie nicht wörtlich auswendig konnte, und, was ich stets am meisten bewundert habe, war die Leichtigkeit, mit der sie fast alle, auch die am schwersten und ungewöhnlichsten Melodien mit schöner Stimme - sie war überhaupt sehr musikalisch - ohne alle Einhilfe sang. Meine Mutter interessierte sich für alles Geistige und Sinnige. Ein praktischer Blick war ihr weniger eigen. Sie war ungemein beliebt und hat wohl schwerlich jemals einen Feind gehabt, eben so wenig wie sie selbst wohl jemals feindselige Gesinnung gegen irgendwen bei sich herumgetragen hat. Sie erfreute sich einer dauernden Gesundheit bis ins höchste Alter. Sie war eigentlich nie krank. Sie hatte keine anderen Verwandten als drei Halbschwestern : 1.) Constanze 2.) Philippine 3.) Auguste Woldt. (Tante Stanzchen, Tante Pinchen und Tante Gustchen genannt.) Diese drei Schwestern besassen ein eigenes Haus auf dem Altstädtischen Graben und ein kleines Vermögen, von dem sie zur Noth leben konnten.

Sie wohnten ihr ganzes Leben lang zusammen. Alle drei waren von Gott sehr schwer geprüft. Die Älteste litt in furchtbarem Grade an der Gicht und war vielleicht 30 Jahre lang so gelähmt, daß sie nur auf Krücken gehen und ihr Haus nie verlassen konnte. Sie beschäftigte sich sehr viel mit Lektüre geistlicher Bücher. Sie wurde etwa 80 Jahre alt. Die zweite trug ihr ganzes Leben hindurch einen tiefen Gram im Herzen. Als blühende Jungfrau war sie verlobt mit einem jungen, sehr talentvollen Kaufmann namens Balewski. Dieser war in Handelsangelegenheiten einige Jahre in Russland, bestimmte von Petersburg aus den Tag seiner Abreise und stellte in einem sehr zärtlichen Schreiben den Tag der Hochzeit in ganz nahe Aussicht. Sehnsuchtsvoll erwartete ihn die Braut am bestimmten Tage; er kam aber nicht, und kam überhaupt nie wieder! Genaue Nachforschungen ergaben, daß er an dem bezeichneten Tage wirklich von Petersburg abgereist sei! Da er bedeutende Geldsummen bei sich führte, ist er wahrscheinlich unterwegs ermordet worden. Die unglückliche Tante hatte noch bis ins höchste Alter eine leise Hoffnung, ihren Geliebten noch einmal hienieden wiederzusehen! Sie überlebte die beiden Schwestern und hatte das Unglück, im Alter von etwa 74 Jahren noch den Fuß zu brechen. Bald nach der Heilung starb sie. Die jüngste Tante, Gustchen, die einmal sehr schön gewesen, hatte das Unglück gehabt, als 20jähriges, lebensfrohes Mädchen ein Auge zu verlieren; eine Operation, die ein sehr geschickter Arzt vollzog, war so unglücklich, daß das andere gute Auge ebenfalls verloren ging und daß völlige Blindheit eintrat! Nicht einmal den Schimmer des Sonnenlichtes konnte sie sehen! In dieser furchtbaren Nacht verlebte sie nun ihr ganzes ferneres Leben; sie wurde auch nahe 70 Jahre alt. Sie beschäftigte sich in ihrer Blindheit mit vielen Handarbeiten, namentlich mit Stricken von Strümpfen und Handschuhen. Teilweise erhielten diese drei Tanten ihre Verpflegung aus meinem elterlichen Hause. Jeden Sonntag, auch sonst häufig, wurden Speisen und Getränke "nach jenem Hause" gebracht. Meine Mutter war unzählige Male dort, um zu trösten und zu erfreuen. Sie wurde von allen drei Schwestern zärtlich geliebt. Ebenso waren wir Kinder, da das elterliche Haus ganz in der Nähe auch auf dem Altstädtischen Graben dem Hausthore gegenüber lag, in unserer Jugend täglich eine kürzere oder längere Zeit bei den Tanten, die uns alles mögliche Gute zufliessen liessen. Ja, sie darbten sich selbst so Manches ab, um uns nur kleine Summen zuzuwenden.

Meine Eltern waren außerordentlich kirchlich. Jeden Sonntag ohne irgend eine Ausnahme, besuchten sie die Kirche; meine Mutter sehr häufig Vor- und Nachmittag. Nur in den Fällen einer Krankheit, die freilich zu den größten Seltenheiten gehörten, versäumten die Eltern den Besuch des Gotteshauses. "Bete und arbeite" war ihre Losung. Ich erinnere mich nicht, die Eltern je untätig gesehen zu haben. Das Geschäft des Vaters war wohl nie glänzend, aber doch immer der Art, daß er die Familie standesgemäß erhalten und uns Kindern eine ordentliche Erziehung angedeihen lassen konnte. Der Vater war äusserst pünktlich; es mußte alles auf den Glockenschlag geschehen. So war er auch in seinem Geschäfte, alle Zahlungen erfolgten prompt sofort. Er war gewissenhaft und gerecht, oft zwar scheinbar sehr hart und rauh, aber dabei doch von Allen geachtet, von Vielen freilich auch gefürchtet. Welche Achtung seine Gewerksgenossen ihm zollten beweist der Umstand, daß er das Ehrenamt eines "Ältermannes" (Obermeister) fünf Mal (ein in Danzig wohl nie dagewesener Fall) während seines Lebens bekleidete. In den letzten Jahren betrieb er sein Geschäft nicht mehr, er hatte sich in Ruhe begeben. Außer seinem Hauptgeschäft war Vater als Entrepreneur des Aufbaues der Dominikbuden während eines Zeitraumes von fast 50 Jahren in ganz Danzig allgemein bekannt.

Im Jahre 1825 hatten meine Eltern das Unglück, durch eine in der Nacht entstehende Feuersbrunst ihre Hintergebäude, in denen Werkstatt und Holzvorräte befindlich waren, zu verlieren. Ein Mensch verbrannte beim Feuer, ein Herr Schmidt, Registrator aus dem Danziger Stadtgericht. Da Vater in keiner Feuerkasse versichert war, so traf ihn dieser Verlust sehr schwer; indessen schenkte Gott den Eltern ein im Unglück ergebenes Herz. Eine allgemeine Teilnahme zeigte sich und von vielen Seiten floss den Eltern namhafte Unterstützung zu. Der Vater kaufte darauf ein Haus in der Schmiedegasse Nr. 100, das wir bald bezogen. Das alte Haus wurde verkauft.

 

Johann Caspar Wüst
* 1770, † 1854
Bürger der Stadt Danzig, Tischlermeister und Ältermann

Carl Theodor Gotthilf Wüst und seine Woldt-Tanten
und unten seine Altvorderen