Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

Teil 01 Teil 02 Teil 03 Teil 04 Teil 05 Teil 06 Teil 07 Teil 08

Dieser Lebensbericht ist der zweite einer ganzen Reihe aus der Familie Wüst - Bulcke.

Ernst Leberecht Wüst (* Pröbbernau 1844, † Jena 1914) beschreibt das Leben seines Vaters Carl Theodor Gotthilf Wüst, geboren am 06.02.1808 in Danzig, Pfarrer in Pröbbernau auf der Nehrung von 1833 bis 1850 und dann bis 1876 in Güttland, Landkreis Dirschau. Er starb dort am 29.12.1876.

Die in dem Bericht genannten diversen Anlagen liegen nicht vor - leider!

 

Jena, im März 1911

Von früher Kindheit an, schon als Knabe von 6 Jahren, kannte ich kein größeres Vergnügen als älteren Personen zuzuhören, welche von vergangenen alten Zeiten erzählten. Ich erinnere mich deutlich, mit welcher Aufmerksamkeit wir Kinder im Güttländer Pfarrhaus lauschten, wenn der Vater, Mutter, Großmutter Bulcke, Tante Welsch und andere von der Belagerung Danzigs, von Napoleon, von schweren Eisgängen, von ihren Reisen oder von Dingen berichteten, die unsere Familiengeschichte betrafen. „Tante“ Welsch war eine besondere beliebte Erzählerin, eine Freundin meines Vaters, ein etwas verwachsenes, aber doch zierliches Persönchen, schwerhörig und ohne Hörrohr nicht zu denken, die häufig Wochen hindurch bei den Eltern als Besuch weilte und die von den Eltern, wenn sie nach Danzig kamen, aufgesucht zu werden pflegte; sie hatte den Vornahmen Henriette, wohnte am Pfarrhofe, gegenüber der Jahrschen Konditorei. Die Häuser an dieser Stelle sind später abgebrochen worden, weil sie, zu nahe an die Marienkirche gebaut, einen freieren Blick auf die schöne Kirche hinderten und das Straßenbild verunzierten. Henriette schrieb stilistisch und inhaltlich bemerkenswerte Briefe, die namentlich meinem Vater stets interessant waren und die sich auch äußerlich dadurch auszeichneten, daß sie oft auf Briefbogen geschrieben waren, die das gute alte Fräulein mit Bleistift-Zeichnungen, Arabesken, Bildern von Blumen, Früchten und dergl. selbst verziert hatte. Einer dieser Briefe, unter alten nachgelassenen Papieren meines Vaters gefunden, liegt diesen Aufzeichnungen bei (Nr.37).

Von den Erzählungen der oben genannten Personen ist mir manches im Gedächtnis haften geblieben. Danach stammte unsere Familie, die Familie Wüst (alle meine Verwandten der älteren Generation haben so ihren Namen geschrieben, nicht Wuest, wie einige jüngeren Glieder der Familie neuerdings schreiben) aus dem Elsass. Auch der Pfarrer Wüst an der Luther-Kirche in Berlin sowie der Professor Dr. Wüst in Halle und der Prof. Wüst an der Hochschule in Aachen schreiben "Wüst" mit zwei Pünktchen über dem u und nicht mit einem dem u nebengesetztes e.

 


Stammbaum der Wüst - Ausschnitt

Der Vater meines Großvaters, mit Namen Johann Nikolaus, war daselbst, ich glaube in Colmar, Fechtmeister gewesen und hatte das Unglück gehabt während des Unterrichts einen seiner Schüler mit dem Stoßdegen zu töten. Um einer Bestrafung zu entgehen, war er aus seiner Vaterstadt geflohen und nach längeren Irrfahrten nach Frankfurt a/Main (?) gekommen grade in der Zeit, in welcher die Krönung des Kaisers Joseph II, des Sohnes der Maria Theresia, 1765 stattfand; in dem Straßengewühl waren ihm von einem Gauner die Schöße seines neuen langen Rockes abgeschnitten worden, so daß er sich, nachdem der Schwarm sich verlaufen hatte, in einer kurzen Jacke wiederfand. Von Frankfurt wandte sich Johann Nikolaus nordwärts, immer höher hinauf, bis er endlich in Pommern sein Zelt dauernd aufschlug und zwar in dem kleinen Städtchen Rummelsburg; es scheint jedoch, als ob er, bevor er in Rummelsburg sich niederließ, an einem andern Orte länger gewohnt hat und dort auch bereits verheiratet gewesen ist. Denn mehrere seiner Kinder, namentlich auch sein ältester Sohn Johann Kaspar Wüst, mein Großvater, sind nach Ausweis der Kirchenbücher in Rummelsburg nicht geboren, während zwei andere Kinder, die frühe gestorben zu sein scheinen, im Geburts- und Taufregister zu Rummelsburg genannt sind. (Vergl. die Blätter in der Tasche dieses Heftes hinten).

 

In Rummelsburg betrieb Johann Nikolaus Wüst die Sattlerei; er heißt in dem Kirchenbuch wiederholt Meister Wüst, auch Wüsten, auch Wiest, Sattler und Bürger; seine Frau hatte die Namen Dorothea Constantia und war eine geborene Aurich. Johann Nikolaus starb zu Rummelsburg am 31. Dezember 1781 an Brustkrankheit und hatte ein Alter von 61 Jahren erreicht, war also 1720 geboren worden. Seine Witwe verzog nach dem Tode des Mannes mit zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter, die ihr geblieben waren, nach Langfuhr, wo sie bei einem Bruder, dem Tischlermeister Aurich, Aufnahme fand. Nähere Mitteilungen über sie finden sich auf S.1 der Familienchronik A und ebenso über ihre Tochter, die später den Schmiedemeister Haak in Danzig heiratete. Der Sohn des Johann Nikolaus und der Dorothea Constantia geborene Aurich war Johann Kaspar Wüst, mein Großvater, über den gleichfalls die Familienchronik A S.1 ff. einiges berichtet. Nachzutragen wäre vielleicht, daß Johann Kaspar als Greis mir wiederholt erzählt hat, wie ärmlich es in seinem elterlichen Hause hergegangen sei: er habe in Rummelsburg als Knabe barfuß gehen und die Gänse seiner Eltern hüten müssen. Auch erinnere ich mich, daß der Großvater mich in Güttland - ich mochte 6 Jahre alt gewesen sein, - eines Tages zu sich rief, als ich einmal ausnahmsweise ohne Schuhe und Strümpfe draußen herumlief, und mich fragte, wie es wohl komme, daß die Sohle eines Schuhes bei längerer Benutzung allmählich immer dünner, die Haut auf der Sohle des Menschen dagegen, je länger man auf ihr laufe, desto fester und dicker werde, und beide hätten doch dieselbe Natur und seien aus gleichem Stoff. Wie er mir die Tatsache erklärte, ist mir nicht mehr erinnerlich; daß er eine Erklärung versuchte, weiß ich noch, und ich sehe im Geiste auch noch die Stelle, wo er es tat. Es war in der Baumallee des Güttländer Pfarrgartens, die nach der “Süßschen" Schmiede zu sich erstreckte und in der Mitte zu einem Viereck sich erweiterte, welches mit weißen Sitzbänken versehen war und wo die Schaukel sich befand.

Auf einer der Bänke saß der Großvater.

Aus dem Munde meines Vaters habe ich über den Großvater später noch mancherlei gehört. So hatte er schon in jener alten guten Zeit, der er angehörte, den Wert eines gemütlichen Dämmerschoppens richtig erkannt.

Täglich schritt er nach vollbrachter Tagesarbeit in würdiger Tracht vom Altstädtischen Graben, seiner Wohnung, durch das Jakobstor über den Stadtgraben hin nach dem Gasthaus zur Sonne, das hinter dem Stadtlazarett lag, wo er als Stammgast mit einigen ihm bekannten Bürgern und Freunden seinen Bierkrug leerte. Auf die Minute pünktlich kehrte er von dort wieder heim, und wenn das Glockenspiel der St. Katharinenkirche einsetzte, um die achte Stunde zu verkünden, zog Johann Kaspar die Klingel seines Hauses, in dessen Flur er von seinem Hausmädchen mit Schlafrock und Licht empfangen wurde. Es geschah das alles mit solcher Regelmäßigkeit, daß die Nachbarn, die den Großvater kommen sahen, genau wußten, daß die achte Stunde nahe sei. Es wirft ein besonders günstiges Licht auf die Ordnung und Festigkeit, die in dem Meister Wüstschen Hauswesen herrschte, daß das eben erwähnte Hausmädchen, Henriette Janzen mit Namen, 36 Jahre hindurch in Großvaters Diensten stand und nach dem Tode der Großmutter ihm die Wirtschaft bis zu seinem eigenen Ableben führte.

Rummelsburg


Hier irrt der Chronist nach dem Stand der Dinge ein wenig: Johann Nikolaus Wüst zieht mit der Familie von Rummelsburg nach Danzig und stirbt dort am 31.12.1781.