Lebensberichte & Familienchroniken

Elisabeth Wüst:
Von Zoppot nach Rio de Janeiro - 1936

01.2022
 

 

 

Die Vorgeschichte:

Heinz Stazki, in Niederschlesien lebend, stellt 2015 im Forum.Danzig.de einen Beitrag ein unter dem Stichwort "Zufallsfund Wüst".

http://forum.danzig.de/showthread.php?12921-Zufallsfund-W%DCST&highlight=janeiro

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Heinz schreibt u.a.:

Zufälligerweise war ich dann mal im polnischen „e-bay“ (= “allegro.pl“) und ersteigerte dort ein Tagebuch, welches eine Reise nach Brasilien im Jahre 1936 von Hamburg aus beschrieb. Ich versuchte mich dort einzulesen, doch die Schrift bereitete mir damals noch einige Schwierigkeiten und somit verschob ich die Auswertung dieses Tagebuches auf später.

Später dann ... nach 5-6 Jahren (ab und zu schaute ich mir schon die tollen Postkarten, die diesem Buch hinzugefügt waren, an und versuchte mich an der Schrift), also 2015, war ich durch etliche Besuche im Archiv des Hunsrücker Standesamtes gewappnet und „entzifferte“ und transkribierte endlich das Tagebuch.

Dieses liegt mir nun in lesbarer Druckschrift vor und ich beabsichtige, das Original den eventuell vorhandenen und interessierten Verwandten, sei´s in BRAS oder D zu übergeben.

Was nun dieses Tagebuch an Informationen über die Familie preisgab, war ein Grund, es hier vorzustellen, denn: ES HAT ZOPPOT-BEZUG!

Vielleicht finde ich auf diesem Wege nähere Einzelheiten und Informationen über die Familie WÜST, welche in Zoppot einmal gelebt haben muß ...

Durch Zufall stieß ich bei weiteren Recherchen auf einen Artikel in der „Trojmiasto.pl“ Historia v. 28.01.2013 von Paweł Pizuński, welcher über einen Artikel aus den „Danziger Neuesten Nachrichten“ vom Januar 1932 schrieb. In diesem Artikel war die schlechte Kopie eines Bildes aus jener Zeit zu sehen:

„Die Fotografie zeigt ein junges Paar mit Hochzeitsgästen. Rudolf Cramer von CLAUSBRUCH mit Ehefrau kann man sehen in der 2. Reihe, 1. v. rechts.“

Die Übersetzung des Artikels zu diesem Bild:

„Obwohl Frl. Ilse WÜST, Tochter der Kapitänswitwe WÜST aus Zoppot Hermann BORMANN im November 1931 in Rio de Janeiro geheiratet hat, hat die Danziger Presse dieses Foto erst im Januar des nächsten Jahres veröffentlicht.
Diese Publikation erfolgte nicht wegen der Schönheit der jungen Braut oder des gutaussehenden Bräutigams. Grund war die Anwesenheit des Piloten Rudolf Cramer und seiner Ehefrau Dorit. Beide waren beliebte Gäste bei den verschiedensten festlichen Anlässen. Er, weil er schon in Rio als Flugkapitän der Do-X, mit der er Reisen über den Atlantik durchführte, lebte, sie, noch als Fräulein NITIKOWSKY, war 1930 im „Hotel Kaiserhof“ zur Miss Deutschland gekrönt worden.

Der Name Wüst sagt mir etwas. Drei Wochen zuvor bin ich mit Heidrun G. in Kontakt gekommen, eine Wüst-Nachfahrin, die mehrere Wüst-Lebens-berichte geschickt hatte.

Die Community macht sich auf die Suche.

Verwirrung löst die Bezeichnung "Kapitänswitwe" aus, denn ein Kapitän Wüst ist bis dato nicht bekannt. - Später stellt sich heraus, dass es sich hier um einen simplen Übersetzungsfehler handelt. Ein polnischer "kapitanie" kann nicht nur ein deutscher Kapitän sein sondern auch ein Hauptmann.

Zum anderen, wer ist Ilse Wüst, ausgewandert nach Brasilien?

Langsam wird das Bild klarer. Bei Wolfgang Wannow: Geschichte der Familie Wannow (Wannovius), 1996 - siehe hier - heißt es auf Seite 229: "2. Ehe der Luise Emilie Wannow geb. Bulcke mit Carl Wüst ... [sie] heiratete am 04.01.1875 in Güttland ihren Vetter, den Landwirt Carl Wüst ... Carl war der älteste Sohn des Ortspfarrers Carl Theodor Gotthilf Wüst zu Güttland ... [siehe dessen Lebensbericht] ... Luise Wüst hatte in ihrer Ehe zwei Söhne, Max und Walter.
Max Wüst, der mit Edith Schramm verheiratet war, ist als Hauptmann 1914 in der Schlacht bei Tannenberg / Ostpr. gefallen ...
In der Ehe wurden vier Kinder geboren: Jochen, Egon, Lothar und Ilse Wüst
[!!!].
Nachdem Edith Wüst geb. Schramm 1912 verstarb [das ist nicht ganz korrekt, sie verstarb 1907], heiratete Max Wüst Liesbeth Fuchs.
Die drei ersten Söhne aus der ersten Ehe kamen in ein Kadettencorps nach Lichterfeld / Berlin und die Tochter Ilse wurde von seinem Bruder in Güttland zusammen mit ihrer Cousine Charlotte Wüst großgezogen.
Ilse ging später nach Brasilien und heiratete dort den Direktor der Dresdner Bank Bouman
[Bormann].

Diese Aussagen lassen sich fast alle belegen:

  • Carl Theodor Wüst, * Pröbbernau 19.10.1836, † Güttland 18.06.1894, Hfb in Güttland
    ∞ 01.1875 mit Luise Emilie Bulcke, * Gerdin 14.06.1840, † Danzig 12.11.1914
    2 Kinder:
    1) Karl Max Wüst, * Güttland 04.11.1875, † Tannenberg 26.08.1914, 1899 in Bromberg Königl. Leutnant des Pommerschen Füsilier Regiment No. 34, 1912 Hauptmann & Kompaniechef
    2) Walter Wüst, * Güttland 16.04.1879, † Eppstein, Taunus, 08.07.1952

  • Karl Max Wüst ∞ Bromberg 30.09.1899 (Rg Militärgemeinde 36/1899) mit Edith Sophie Auguste Gertrud Schramm, * Bromberg 27.04.1877,
    † Bromberg 11.02.1907
    Eltern: Richard Schramm, Fabrikbesitzer in Bromberg, & Gertrud Welle
    4 Kinder:
    1) Richard Carl Joachim Wüst, * Bromberg 12.10.1900
    2) Hermann Walter Egon Wüst, * Bromberg 26.07.1902
    3) Günther Max Lothar Wüst, * Bromberg 02.11.1903
    4) Ilse Louise Gertrud Wüst, * Bromberg 09.10.1905

  • Karl Max Wüst ∞ StA Berlin - Schöneberg 08.06.1912 mit Elisabeth Fuchs,
    * Allenstein, Ostpr., 01.04.1881,
    Eltern: Karl Fuchs, 1912 königl. Baurath in Berlin, & Emilie Hoffmann

Wohnort des Ehepaares Wüst - Fuchs ist Bromberg. Der Name Wüst findet sich jedoch weder in den Bromberger Adressbüchern vor noch während des Wk I; vermutlich wohnen sie in einer Dienstwohnung auf dem Kasernengelände, die  Elisabeth Wüst nach dem Tod ihres Ehemannes verlässt / verlassen muss. Lt. Adressbuch Zoppot 1917/18 wohnt Wüst, Elisabeth, verw. Hauptmann, dort in der Schulstr. 44; unter dieser Adresse wird sie dann im Adressbuch Danzig, das Zoppot einschließt, von 1926 bis 1933 geführt. 1936 scheint sie bei ihrer Mutter in Berlin zu leben.

Ob die o.a. vier Kinder aus Max Wüsts erster Ehe 1912 zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter Elisabeth Fuchs nach Bromberg kommen oder eventuell nur Ilse Louise Gertrud Wüst ist unklar. Auf jeden Fall sind sie in Kontakt miteinander und haben offensichtlich ein gutes Verhältnis.

Am 17.10.1929 heiratet der Stiefsohn Hermann Walter Egon Wüst im Standesamt Danzig - Brentau; Trauzeugin ist seine Stiefmutter Elisabeth Wüst.

14 Tage später geht Ilse Louise Gertrud Wüst in Hamburg an Bord eines Schiffes der Hamburg - Amerika - Linie, das sie nach Rio de Janeiro, Brasilien bringt. Auf der Passagierliste ist als bisheriger Wohnort Zoppot angegeben. Da sie dort nicht in den Adressbüchern erscheint wohnt sie entweder zur Untermiete oder zusammen mit ihrer Stiefmutter.

Wikipedia: Mehr über das Kombischiff "Carl Legien"

Es bleibt die Frage, was will eine 24-Jährige "ohne Beruf" 1929 kurz nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in Rio de Janeiro?

Eine Antwort wäre: Ilse lernt in Zoppot - oder andernorts - Hermann Bormann während dessen Deutschlandaufenthaltes kennen ... der o.a. Zeitungsartikel von 1932 besagt jedoch, dass das Paar erst im November 1931 in Rio heiratet, rund zwei Jahre nach ihrer Ankunft. Andererseits sagt Elisabeth Wüst, dass Ilse 1929 mit dem Brautkleid ausreiste ... Und aus ihrem Reisebericht geht hervor, dass Ilse an verschiedenen Orten in Rio wohnte und arbeitete. So ganz passt das irgendwie wohl nicht zusammen.

Sei's drum. Auf jeden Fall besucht Elisabeth Wüst, geb. Fuchs, die Stieftochter Ilse Bormann, geb. Wüst, 1936 in Rio de Janeiro und führt über diese Zeit ein Tagebuch.

Ausgestattet ist sie mit einem schmalen Geldbeutel - Holzklasse, die 50 RM für die bessere Speiseklasse zwecks Nähe zu "angenehmeren" Mitreisenden zwackt sie der Geldbörse mit Bedenken ab, auf der Rückfahrt spart sie sich diesen Luxus. Versehen ist sie als Bürgerin der deutschen Mittelklasse mit kleineren und größeren Portionen an kultureller Arroganz, auf die "kleinen Leute" herabschauend, Antisemitismus, Stolz auf die Nazis, Rassismus etc. etc. - sie wird sich darin kaum von vielen Deutschen während dieser Zeit unterschieden haben.

Zum Schluß erstellt Elisabeth Wüst eine Erfolgsbilanz: Wie oft ist sie zum Essen und Festlichkeiten eingeladen worden, und wie oft haben ihre Stiefkinder Ilse und Hermann ihr zu Ehren Gäste eingeladen. Diese Bilanz verdeutlicht, dass Elisabeth sich ausschließlich in der deutschen Community in Rio bewegt.

Aus heutiger Sicht: Über die Einstellungen und Verhaltensweisen in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu hören ist eine Sache; im Original dies zu lesen ist eine andere Sache ... und geht unter die Haut.

60 Jahre später, in den 1990-er Jahren, lebe und arbeite ich lange in Brasilien ... kenne manches, von dem Elisabeth berichtet ... und bin in einem Siedlungsgebiet deutschstämmiger Auswanderer mit der immer noch existierenden kulturellen Arroganz gegenüber den caboclos (Schimpfwort) konfrontiert ...

Zum Download:

Wüst Elisabeth - Reise nach Rio - 1936.pdf - transkribiert

Wüst Elisabeth - Reise nach Rio - 1936.pdf - handschriftlich

Dank an Heinz, dafür dass er dieses spannende Reisetagebuch aufgetrieb, sich im Forum.Danzig.de damit meldete, das Tagebuch transkribierte, und das Original an Heidrun G. schickte, womit es wieder in den Kreis der Familie Wüst zurückkehrte!

Und, Heinz, sorry, dass es sooo lange dauerte, bis ich mit der Veröffentlichung in die Puschen kam ...

RMG