03/2022 |
Heinz
Mandey : Ungeordnete Erinnerungen -
Nickelswalde
zwischen 1935 und 1958 |
Heinz Mandey, Jahrgang 1935, verbrachte einen großen Teil
seiner Kindheit in Nickelswalde. Er ging dort bis 1945 zur Schule. Seine
Mutter flüchtete mit ihm nach Kiel, kehrte jedoch bereits 1947 nach
Nickelswalde zurück. Die polnischen Behörden ließen seinen Vater, Beruf
Fischer, nicht ausreisen, da es in Polen an qualifizierten Fischern
mangelte. Ohne Begeisterung erlernte Heinz den Fischerberuf. Von 1955 bis 1957 diente
er beim polnischen Militär.
Anschließend siedelte die gesamte Familie in die Bundesrepublik
Deutschland über.
Heinz Mandey starb am 8. März 2022 in Emmerich.
Rainer MueGlo |
Das Haus Mandey in den 50-er Jahren |
Schule bis 1945
Eigentlich
fällt mir dazu nichts ein ... nur das wir eine Lehrerin aus Bayern
hatten. Sie hieß Fräulein Luns. Ein Weibskerl, Körpergröße über 2 Meter,
Gewicht circa 2 Zentner. Die war jeden Tag wunderbar motiviert. Nach
ihrer Begrüßung "Heil Hitler" und der entsprechenden Erwiderung der
Klasse, bekamen wir die obligatorische Vitamintablette. Danach schnappte
sie sich zwei Jungs, die am Tage zuvor beim Unterricht aufgefallen
waren. Sie packte sie an den Haaren, einen mit der linken Klaue, den
anderen mit der Rechten, zog die beiden durch die Klasse und brüllte mit
erregter Stimme "Aus euch Himmelhunden werde ich auch noch Menschen
machen!" Und so waren pro Kopf mindestens fünf Schläge mit dem Rohrstock
fällig, meisten auf die Hände ... |
Die alte dreiklassige Volksschule in
Nickelswalde |
1945 : Kriegstage
Eine
Rückblende auf die Kriegstage im Werder, insbesondere in
Nickelswalde an der Weichsel und Umgebung von Januar bis Mai 1945.
Lange
waren die meisten Dörfer im Werder, insbesondere entlang der Küste, von
Luftangriffen weitgehend verschont geblieben. Ab Anfang Januar 1945 war es
mit der Ruhe vorbei. In den frühen Morgenstunden wurden die Bewohner von
Nickelswalde noch während des Schlafs aufgeschreckt, durch Aufrufe von
Haus zu Haus alarmiert und aufgefordert, die Häuser umgehend zu
verlassen. Man solle sich in Richtung Weichsel zu begeben. Der
Sammelpunkt war an der Dampffähre. Ich kann mich nicht erinnern, dass
dort jemand weitere Anweisungen geben hätte. Es hieß, der Russe habe die
Front durchbrochen und wäre jetzt im Anmarsch. |
Schiewenhorster Dampffähre |
Mittels
der Fähre setzten viele Flüchtlinge auf die Schiewenhorster Seite über.
Dort bildete sich eine lange Kolonne an Fußgängern, Frauen mit ihren
Kindern, Alte und solche, die nicht wehrtauglich waren. Letztere
bildeten die Minderheit.
Die
Kolonne setzte sich in Richtung Bohnsack in Bewegung. Wohin es ging
wusste wohl niemand. Während dieser Zeit war es bitterkalt, circa
10 und mehr Grad minus, und es lag mindestens 30 cm Neuschnee. Ich hörte von
den Erwachsenen, dass man hier auf der Westseite der Weichsel sicher
sei. Möglicherweise waren es Weisheiten von Wehruntauglichen, die
meinten, dass die Russen aus Richtung Osten nicht über die Weichsel
kämen.
Meine
Tante mit ihren Kindern sowie meine Mutter und ich kamen in Wordel an. Wordel
ist ein kleiner Ort zwischen Schiewenhorst und Bohnsack. Verwandte
meines Onkels wohnten dort. Sie gewährten uns für einige Tage
Unterschlupf.
Ich
erinnere mich sehr genau, dass in kurzen Abständen über das Radio die
Flüchtlinge aufgefordert wurden, die Straße freizugeben. Der Grund war
die neue „Wunderwaffe“, denn diese sollte schnell an die Front
transportiert werden. Natürlich standen wir Kinder am Fenster und
hielten Ausschau, wann endlich etwas vorbei kämme. Aber mehr als die
Durchgabe der Parolen ereignete sich nicht.
Nach zwei
oder drei Tagen sagte mein Onkel zur meiner Tante, sie solle sich und
die Kinder anziehen. Meiner Mutter empfahl er das gleiche. So begaben
wir uns nach kurzer Zeit - fröhlich waren wohl nur wir Kinder - wieder
in Richtung Nickelswalde.
Für uns
Kinder schien der Krieg jetzt wohl beendet. Doch dauerte es nur wenige
Tage, da erschienen die braunen Hiwis - die übereifrigen Handlanger,
hörig dem größten Adolf, den sich die Deutschen jemals angetan haben.
Diese suchten die Hausbesitzer auf und teilten ihnen mit, dass in den
nächsten Tagen stark mit durchziehenden Flüchtlingstrecks zu rechnen
sei. Aufgrund des Übersetzens über die Weichsel würden auch Staus
entstehen, und es würde erforderlich werden, diese Menschen so gut es
gehe mit warmen Getränken, Kaffee, sowie Milch für die Kinder zu
versorgen. Nach dem langen Marsch in eisiger Kälte standen bald junge
Frauen tränenüberströmt vor den Häusern der Ansässigen mit der Bitte,
man möge ihnen doch ein Laken geben oder ein größeres Handtuch für die
Säuglinge, damit sie ihre erfrorenen Kinder oder Enkel nicht ohne etwas
in den Straßengraben legen müssten. Diese Tragödien wiederholten sich
jetzt jeden Tag. Hinzu kam, dass viele Menschen, die keinen Pferdewagen
hatten, jeden Abend in den Häusern Einlass begehrten. Sie konnten vom
langen Tagesmarsch kaum noch auf ihren Beinen stehen. Wer diese Tragödie
nicht erlebt hat sollte sich intensiv konzentrieren, um das gedanklich
nachvollziehen.
Die harten
Wetterverhältnisse hatten die Weichsel zufrieren lassen. Dadurch konnte
für einige Zeit der Treck zügiger das westliche Ufer in Schiewenhorst
erreichen. |
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Für die
Versorgung der Kranken und gebärenden jungen Frauen wurde die Gaststätte
Wittstock provisorisch hergerichtet. Diese verfügte über eine Küche
sowie einen Tanzsaal, der für die Betreuung der Neugeborenen sowie der
sterbenden Menschen vom Säugling bis Alt genutzt wurde. Überwiegend
Frauen aus Nickelswalde stellten sich für die Betreuung der Flüchtlinge
zur Verfügung. Sie arbeiteten in Schichten. Es waren nur wenige Männer
vorhanden. Alle setzten sich aufopfernd bis an die Grenzen Ihrer
Gesundheit sowie die letzten Kräfte ein. Ich verzichte darauf,
Namen zu erwähnen, nur einen werde ich herausstellen. Er war Fischer.
Dieser war als Sanitäter tätig, zugleich war er Hebamme, gab den
Säuglingen das Fläschchen, tröstete die Verzweifelten, hielt die Andacht
für die Verstorbenen.
Die
Lebensmittelversorgung funktionierte wohl befriedigend. Die
Nickelswalder Bäckerei versorgte die Flüchtlinge mit Brot.
Probleme
entstanden bei Fuhrwerkhavarien unter dem Damm in Weichselnähe.
Gebrochene Achsen, defekte Wagenräder behinderten das Vorwärtskommen.
Auch einige Pferde konnten vor lauter Erschöpfung nicht mehr stehen und
wurden an Ort und Stelle erschossen. Dies erfolgte auf dem großen
Gelände des Knopp-Hofes (auch Luisenhof und nach dem Vorbesitzer Kroecker
Mühle genannt).
Das ganze
Drama der leidgeprüften flüchtenden Menschen verlief bis zum 09.03.1945
trotz großer Strapazen ruhig. An diesem Tag jedoch um 14:45 Uhr näherten
sich die ersten Flugzeuge und es hagelte ohne Unterbrechung Bomben. Man
sah vor lauter Flugzeuge kaum noch den Himmel. Neben Toten unter der
einheimischen Bevölkerung traf es ganz schlimm die Flüchtlingstrecks.
Diese wurden mit Brandbomben und Maschinengewehren angegriffen. Es gab
sehr viele Tote. Die Russen bombten bis die Pferde tot vor den Wagen
lagen. Sie warfen bei diesem ersten Angriff zum größten Teil
Brandbomben. Sie wollten wohl das Dorf auf diese Art
niederbrennen.
Ab dem
10.03.1945 erfolgte ab dem frühen Morgen bis in die Nacht der Abwurf von
Bomben. In Tiefflügen wurden die Flüchtlinge beschossen. Am Ende der
Kampfhandlungen sind die Russen mit Panzern über Wagen, Tiere und
Menschen gefahren - sie hatten es sehr eilig, nach Berlin zukommen.
Zwischen
den einzelnen Angriffen gab es immer für zwei Stunden eine Pause.
Mittlerweile wurde fieberhaft versucht, über die Weichsel eine
Pontonbrücke zu legen, was den Russen nicht verborgen blieb. Sobald ein
Element montiert war zerstörten die Russen es mit Bomben. |
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Der
Knoppsche Hof blieb von Schäden verschont. Das Gebäude befand sich in
einer glücklichen Lage direkt unterhalb des Dammes. Die Russen flogen
aus Richtung Ost-Süd-Ost an, direkt über das Knoppsche Gebäude. Sie
mussten diesen Kurs halten, um die im Bau befindliche Pontonbrücke zu
treffen. Ein weiteres Ziel der Piloten waren die zwei Dampffähren. Diese
haben sie jedoch nie getroffen.
Die
Befreiung von Nickelswalde am 09.05.1945: Nach einer Erzählung meines
Großvaters fuhr gegen 15 Uhr ein Pferdewagen durch das Dorf mit
freundlich grüßenden Russen. Einer von ihnen spielte auf der
Ziehharmonika. Circa 20 Minuten später marschierten zum Teil sinnlos
besoffene Mongolen, „wo du Uri“ und „Frau komm mit“ grölend, ins Dorf
ein. Bei Anbruch der Dunkelheit konnte man im ganzen Dorf die Schreie
und das Wimmern von den vergewaltigten Mädchen und Frauen hören. Manche
haben es nicht überlebt. Glücklicherweise blieb meine Mutter verschont. |
Knoopsche Hof |
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