Flucht
Der Zeitpunkt, die eigene Flucht zu
planen, rückte immer näher. Eine Entscheidung zu treffen fiel meiner
Mutter schwer. Die täglichen Informationen, laut denen erneut einige
Marineprähme mit Flüchtlingen versenkt worden waren, somit hunderte von
Toten zu beklagen waren, ermutigten nicht unbedingt, sich für eine
Flucht über das Meer zu entscheiden. Aber eine andere Möglichkeit gab es
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Es war bereits der 08.05.1945. Gegen 15
Uhr nahmen die Angriffe der Russen ab. Es wurde nach wie vor geschossen
aber nur noch vereinzelt.
Die letzte Möglichkeit zur Flucht war der
Besatzung der Dampffähre Nickelswalde – Schiewenhorst vorbehalten. Diese
Fähre wurde seit einiger Zeit zusätzlich zum Fährbetrieb täglich ab 22
Uhr für den Transport von Wehrmachtangehörigen, verwundeten Soldaten und
Flüchtlingen zur Halbinsel Hela eingesetzt. Da der Kapitän dieser Fähre
mein Onkel war, war meine Mutter über die letzte Fahrt der Fähre
informiert. Mein Onkel selber hatte keine Entscheidungsgewalt über die
Mitnahme von Passagieren, aber durch einen glücklichen Zufall gelang es
meiner Mutter und mir doch auf die Fähre zu gelangen. Mit der
Einschiffung ging es sehr schnell, da die Russen sich angeblich schon in
der Nähe am Ortseingang von Nickelswalde formierten.
Die Fähre legte gegen 20 Uhr 30 vom Ufer
ab in Richtung See. Auf dem Deck befanden sich zwei oder drei
Schlauchboote, in denen sich schwer verwundete Soldaten befanden. Wir
wurden unter Deck untergebracht. Ich erinnere mich sehr genau. Nachdem
wir auf See waren kam ein starker Sturm aus Richtung Nordwest auf. Es
wurde sehr unruhig, auch im Inneren der Fähre. Gegen 24 Uhr kam mein
Onkel von der Brücke, und sagte zu meiner Tante und zu meiner Mutter,
wir müssten sofort an Deck kommen, denn die Fähre würde von einem U-Boot
an Backbordseite mittschiffs verfolgt. Der Mond strahlte auf die vom
Sturm aufgewühlte See und in unmittelbarer Nähe, vielleicht circa 5
Meter entfernt von der Fähre, war das U-Boot in voller Länge
aufgetaucht. Es wälzte sich in den Wellen, sah aus wie ein großer Wal.
An Deck war kein Laut von den Menschen zuhören. Ich denke, wir hielten
alle den Atem an. Nachdem wir eine lange Zeit wie lange? Keine
Erinnerung ‑ an Deck ausgeharrt hatten, drehte das U-Boot ab.
Möglicherweise dachte der russische U-Bootkommandant, mit dieser
Nussschale ertrinken die ohnehin von selber. Denn die Fähre war alles
mögliche aber sicherlich nicht hochseetauglich.
Es war am dritten Tag unserer Fahrt, als
das Trinkwasser aufgebraucht war. Wir mussten in kleinen Rationen
Seewasser trinken. Da das Ostseewasser nicht so salzhaltig ist, war es
für den Magen verträglich. Der Sturm flaute ab und die aufgewühlte See
beruhigte sich nach und nach. Nun wurden auch die Schäden sichtbar, die
der Sturm angerichtet hatte, doch größere Schäden waren nicht
entstanden. Die Fahrt ging nun im ruhigen Fahrwasser weiter. Plötzlich
machte sich ein schwerer Ruderschaden bemerkbar. Die Fähre war
manövrierunfähig und wurde von den Strömungen hin und her getrieben. Die
Funkstation an Bord funktionierte noch, und glücklicherweise befand sich
ein Marineschiff in der Nähe, es könnte ein Minenräumboot gewesen.
Dieses nahm uns in Schlepp bis zur Kieler Förde.
Ankunft in Schleswig-Holstein
Dort angekommen wurden die meisten
Passagiere von einem kleinen Boot abgeholt, auch meine Mutter und ich.
Wir wurden in Eckernförde am Hafen ausgesetzt. Nun mussten wir warten,
es war noch früh am Tag. Am Vormittag erfolgte die Anweisung, in einen
Zug zusteigen, die auch befolgt wurde. Nach kurzen Zeit setzte sich der
Zug in Bewegung. Die Reise führte an Feldern und Wiesen entlang; Häuser
oder ähnliches kamen nicht in Sicht. Nach einer längeren Fahrzeit
erreichten
wir am frühen Nachmittag
Owschlag in Schleswig Holstein. Es war Mitte Mai und sehr heiß an
diesem Nachmittag. Ich erinnere mich sehr genau, dass auf dem Bahnhof
ein Lazarettzug mit Schwerverwundeten in den Wagons abgestellt war. Sie
schrien wie Tiere, ich denke, aufgrund Ihrer Verletzungen.
Wir standen nun vor dem Bahnhofsgelände
und warteten. Nach einer Weile kam ein Fuhrwerk, und jetzt hieß es die
Fluchtlinge sollten auf den Wagen steigen (kein Schreibfehler, es hieß
wirklich „Fluchtlinge“). Es ging nun nach einer halben Stunde Fahrt ins
nächste Dorf namens Norby. Unterwegs fiel uns auf, dass hier wohl keine
Kampfhandlungen stattgefunden hatten, es gab keine Ruinen oder
niedergebrannte Häuser und dergleichen.
Vor einer Gaststätte murmelte der Kutscher
etwas, das wohl heißen sollte: Absteigen! Wir gingen durch ein hohes
Scheunentor und befanden uns auf dem hinteren Hof. Es handelte sich hier
um eine größere Gaststätte mit einem Tanzsaal sowie einem Wohnhaus.
Nach kurzer Zeit erschien der Eigentümer
und erklärte uns, dass wir die Unterkünfte noch nicht betreten könnten,
diese müssten erst ausgemistet werden, es handele sich um einen
stinkigen verdreckten Schweinestall, und außerdem bekäme er, der
Eigentümer erst am nächsten Tag etwas Stroh. Auf die Frage ob wir denn
nicht im Saal schlafen dürften, sagte er, dass die Dorfjugend beim Herrn
Bürgermeister vorstellig gewesen sei, sie möchte doch am Wochenende so
gern tanzen wie immer, und somit dürfe er den Saal nicht mit
Fluchtlingen belegen. So war es nun. Wir haben dann die erste Nacht
zusammengekauert unter freien Himmel bei eisiger Kälte verbracht. Am
nächsten Morgen wurden uns dann zwei Ziegelsteine hingeworfen, ein
rostiger Wasserkessel hingestellt. Da konnte sich jeder etwas
Trinkwasser holen und etwas Wasser aufkochen damit der Magen etwas
Warmes bekäme. Denn dieses dahergelaufene Fluchtlingspack, die hatten ja
noch nicht mal Koffer mit Wäsche dabei. Auch im Allgemeinen waren die
meisten Dorfbewohner wohl der Meinung, man solle dieses Pack auf einen
Pferdewagen werfen und in die See reinfahren, dann wären Sie doch weg.
Am nächsten Tag durften wir den halbwegs
ausgemisteten Schweinestall betreten und mehrere Nächte dort verbringen.
Man warf auch Stroh herein, so reichlich, dass man die Strohhalme am
besten über Kreuz hätte legen sollen, um etwas ergiebiger zu sein. Nach
einigen Tagen war das mit der Tanzerei wohl nicht mehr akut, und wir
durften im Saal schlafen; ich weiß nicht mehr wie lange aber es waren
etliche Wochen.
Eines Tages wurden wir einzeln aufgerufen.
Uns wurde mitgeteilt, dass wir in den nächsten Tagen eine Unterkunft
bekommen würden. Ein Schupo führte die Menschen zu den einzelnen
Häusern, sonst wäre der Einlass unmöglich gewesen. Es gab unter den
Einheimischen auch freundliche Leute, die den Flüchtlingen etwas
geholfen haben, aber diese hatten meistens auch nichts. Die anderen
waren uneinsichtig sowie auch bösartig. |
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