Von der Zeit des
unglücklichen Krieges, unter dessen Folgen Danzig
so furchtbar zu leiden hatte und den die Großeltern miterlebten, wurde
in meinem elterlichen
Hause oft
gesprochen und
vieles
erzählt. Als im Juni
1812 Napoleon selbst in Danzig erschien,
um die letzten Vorbereitungen für
den Zug nach
Rußland zu
treffen, beschied
er eines Tages
auch eine große
Anzahl von Wagenbauern und Zimmer
-
und Tischlermeister zu
sich auf den Hof seines
Quartiers (ich
glaube auf Langgarten),
um
sie mit der schleunigsten Anfertigung von
Wagen und
Wagenaufsätzen
für Proviant
und Munition zu beauftragen.
Zu
den Meistern,
welche zu
dem bestimmten
Termin
ihre Arbeiten
abzuliefern hatten, gehörte auch der Großvater,
und er
hat den großen
Kaiser selbst
gesehen, wie er mit
der
Spitze seines Degens
in den Sand des
Erdbodens die Formen zeichnete,
welche die
Räder der Wagen und
die zu
festigenden
Kästen haben
sollten. Es ist das gewiß bewunderungswürdig, daß der Kaiser auch so
geringfügigen Dingen seine Aufmerksamkeit
zuwandte und ein Zeichen seiner
Größe.
Am meisten hatte die
arme Danziger Bevölkerung im Jahre 1813 zu
leiden,
als die Trümmer
des Macdonaldschen 10.
Armeekorps nach
den Niederlagen in Rußland
sich allmählich in Danzig sammelten, gegen 36.000 Mann aus allerlei
Nationen.
Darunter kaum
noch 10.000 Mann brauchbar, und die Russen unter dem Herzoge Alexander
von Württemberg, 40.000
Mann stark,
Danzig
belagerten und beschossen.
Täglich und an
den verschiedensten Stellen der Stadt wüteten Feuersbrünste, bald trat
Teuerung der Lebensmittel ein (das Pfund Butter kostete 2 Taler, der
Scheffel Getreide 40 Taler u.s.w.), Hungersnot entstand, und nur
notdürftig konnte man sein Leben fristen und nur unter Gefahr für das
Leben durch die Straßen gehen.
Von dieser
schrecklichen Zeit zu erzählen wurde Tante Welsch nicht müde, wie Kinder
und Frauen in den Kirchen namentlich in der Barbara-Kirche auf
Langgarten, vor den Kugeln der Belagerer sich
zu schützen suchten, wie die Familien in den Kellerräumen
sich aufhielten,
wie die armen Einwohner an den Toren der Stadt darum bettelten heraus
gelassen zu werden und wie auf Befehl des Herzogs von Württemberg
jeder abgewiesen
und in die Stadt zurückgetrieben wurde.
Auch als im Laufe des
Jahres die Alliierten
mit Napoleon einen achtwöchentlichen
Waffenstillstand geschlossen hatten, suchte der Herzog das Abziehen der
Einwohner
aus der Stadt
zu hindern.
Damals aber
gelang es doch vielen
durch die
Kette der Posten zu kommen,
so auch dem Großvater
Johann Kaspar
Wüst mit den Seinigen,
die in St. Albrecht bei Bekannten Aufnahme fanden. Der
Großvater hatte
aus besseren Tagen noch eine
Anzahl
von Golddukaten im
Besitze, als
er den Versuch machte aus der Stadt sich zu retten, und um die beutegierigen
Kosaken am Petershagener Tor,
welche
die Spaziergänger
behelligten und ihre Kleider nach Habseligkeiten durchsuchten, zu
täuschen und
den Rest seiner Geldmittel
sich zu erhalten, hatte er einen starken Stock ausgehöhlt und Goldmünzen
übereinander geschichtet dort verborgen, und den Stock als Spazierstock
In
der Hand schwenkend wurde er unangefochten durchgelassen.
Ein Vorgang aus dieser
schlimmen Kriegszeit, der sich aber in dem Anwesen der Eltern meiner
Mutter abgespielt hatte, erregte bei mir und meinen Geschwistern, sobald
davon erzählt wurde, ganz besonderes Interesse.
Die Eltern
meiner Mutter, Fleischermeister Johann Gottfried Bulcke und seine
Ehefrau Pauline geborene Remling, waren wohlhabende Leute, die zur Zeit
der Napoleonischen Kriege auf dem Altstädtischen Graben zu Danzig drei
nebeneinander liegenden Grundstücke besaßen in der Nähe des Haustors.
Als nach der Kapitulation Danzigs im Jahre 1807 die
Not groß wurde und die Gefahr, alles Hab und Gut zu verlieren, die
Bürger der Stadt auf das Äußerste erregte, verfielen die Großeltern, um
wenigstens das nicht unbeträchtliche bare Geld in Silber- und
Goldstücken zu retten,
auf einen
eigenartigen Einfall. Ganz heimlich verpackten die Großeltern die
Geldbestände in einer Nacht in große Futterschwingen (flache Körbe,
in denen den
Pferden Hafer und Häcksel in die Krippe geschüttet wird), hoben im
Stallgebäude einige Bohlen des Bodenbelages heraus, mit denen die
Pferdestände ausgedielt waren,
und vergruben
sorgfältig das Geld unter diesen Bohlen. In der nun folgenden Zeit
wollte es der Zufall, daß eine Anzahl von Pferden des Französischen
Gouverneurs, des Generals Rapp und seines Nachfolgers, in dem Stalle der
Großeltern und in den eben erwähnten Ständen untergebracht wurden und
dort während der ganzen folgenden Zeit bis zum Schluß des Krieges
verblieben.
Da endlich, im Jahre
1814 (am 2. Januar streckten die Franzosen am Hagelsberge
die Waffen) als alle Gefahr beseitigt war, begaben sich die Großeltern
wieder zur Nachtzeit in aller Heimlichkeit ganz allein zum Stalle,
entfernten die Bretter von dem Orte, wo der Schatz vergraben war, und
enthoben ihm dem Verstecke. Aber o weh!
Als sie beim Schein des flackernden Lichtes in ihrer Wohnstube das Gold
und das Silber auf den Tisch schütteten, zeigte es sich, daß die
Silbermünzen zumal die vielen Talerstücke,
schwarz
angelaufen waren. Der Urin der Pferde, die Jauche, die sich in dem
Stalle gebildet hatte, war durch die Bretter die vielen Monate hindurch
durchgesickert und hatte das Unheil angerichtet. Die Großmutter erzählte
uns, daß sie Wochen lang bei verschlossenen Türen zu tun gehabt habe, um
mit wollenen Lappen und Putzpulver alle die Münzen wieder zu reinigen,
sodaß sie zur Ausgabe gelangen konnten.
Diese Erzählung
von der Bergung des Schatzes und seiner Hebung im Dunkel der Nacht, das
Bild der Gold-
und Silber
reinigenden Großmutter und der Gedanke an das Gewieher und das Getrappel
der Rappschen Rappen erfüllte uns, die aufhorchenden Enkelkinder, stets
mit wonnigem Schauer.
Die Jungendjahre
verlebte mein Vater nach dem Ende des Krieges ohne erhebliche und
störende Vorkommnisse in seiner Familie.
Einiges hat er
in seinen Aufzeichnungen von seinen Erlebnissen in jener Zeit erwähnt.
Er hatte noch zwei Brüder, Fritz, der älter, und Gustav, der jünger war
als er, und eine erheblich
jüngere Schwester Amalie (Malchen). Von den Brüdern ist Fritz Kaufmann,
Zigarrenhändler, Gustav Zimmermeister und Holzhändler geworden, beide in
ihrer Vaterstadt, beide später wohlhabende Leute, jener in der
Wollwebergasse neben dem Zeughaus, dieser auf dem Steindamm neben der
ehemals Behrendtschen Ölmühle. Mein Vater war der einzige von den
Brüdern,
der das Gymnasium
besuchte; von seinem 12.
Jahre ab hat sein
Vater außer dem Lebensunterhalt, den Kleidern und der Wohnung keinen
Pfennig geben können: bald nach seinem Eintritt in das Gymnasium erhielt
er Freischule, und für die Bücher sorgten zum Teil einzelne ihm
wohlgesinnte Lehrer, zum Teil kaufte er sie für Geld, das er durch
Stundengeben schon als Schüler der mittleren Klassen verdiente.
Mein Vater gehörte in
den Klassen immer zu den besseren Schülern, was auch durch die
Zeugnisse, von denen sich einige erhalten haben (Nr. 3,4,5) erwiesen
wird. Als Schüler der oberen Klassen hatte er einen großen
Bekanntenkreis in Danzig,
und in vielen guten Familien war er ein gern gesehener Gast, so daß er
bei seinem Abgange von der Schule Michaelis 1828 und seiner Abreise nach
Halle es für geboten erachtete,
in
der Zeitung öffentlich sich dem Wohlwollen seiner Gönner für die Zukunft
zu empfehlen.
Auch diese
Zeitungsnotiz (wohl aus dem Danziger Intelligenzblatt) habe ich unter
alten Papieren gefunden und diesen Blättern beigefügt (Nr.5).
Ich reihe an dieser
Stelle zwei Momentbilder an, kulturhistorisch nicht ohne Interesse, wenn
man Vergleiche zieht zwischen der Zeit vor kaum 100 Jahren und heute
(1911). Da erscheint eines Tages der zehnjährige Schüler Karl Wüst an
dem Schalter der einzigen Briefannahme Stelle
in Danzig, wenn ich nicht irre Ecke der Langgasse und Großen
Wollbergasse, und klopft zaghaft an das Fenster dieses Schalters,
das nach einiger
Zeit geöffnet
wird.
Mit den Worten "Guten
Tag, Herr Aloff, der Vater läßt grüßen und bittet Sie diesen Brief
abzuschicken" will Karl den Brief ihm zuschieben. Er hat sich jedoch
verrechnet;
denn in
unwirschem Ton ruft Aloff von innen ihm zu:
“Du siehst
doch, lieber Sohn, daß ich
jetzt keine Zeit habe, komme nach einer halben
Stunde wieder".
Erst als Karl nach dieser
Frist wiederkehrt, wird ihm der Brief
abgenommen
und nachdem Karl auch noch die Kosten für die
Beförderung mit einem halben Gulden erlegt hat,
ist das Geschäft
der
Briefbesorgung
beendigt.
Ein andermal kommt
die Großmutter
Wüst Sonntag Abend mit ihren drei Söhnen und der Tochter und mit Jette,
dem Dienstmädchen,
die zur
Familie gerechnet wird, aus Langfuhr
nach Hause, während der Großvater noch in der „Sonne“ ist. Im Hausflur
ist es finster,
die
fünf Personen
stehen da,
und
die Großmutter
fordert ihren Ältesten auf,
Licht
zu schaffen.
Fritz langt das Feuerzeug
aus der Tasche,
hält
Stein und Stahl und Schwamm
und Schwefelfaden
kunstgerecht
in den Händen und
beginnt zu
schlagen:
Pink, pink,
pink;
doch der Schwamm
will nicht
so,
wie Fritz will.
“Nein, wie ungeschickt
du auch heute wieder bist" ruft die Mutter,
“gib
alles
einmal
Karl, der
wird schon
Feuer kriegen".
Nun versucht sich
Karl, und pink,
pink, pink,
pink, klingt es
wieder
durch den Raum, doch wieder
erfolglos;
es wird dunkler
und dunkler.
Endlich gelingt
es der
lichterfahrenen
Jette den Funken
in
dem Schwamm aufzufangen,
den
Schwefelfaden zu entzünden
und mit ihm das Talglicht,
das vorsorglich
von ihr
vor dem Ausgang auf den Fensterkopf
des
Hausflurs gestellt
ist, anzustecken.
Alle atmen auf, und nun
erst
geht es die Treppe
hinauf, nach
dem fünf und mehr Minuten
in
der Dunkelheit verbracht sind.
Wie anders heute,
da beim Öffnen der Haustür das elektrische Licht ohne unser Zutun
aufflammt, von selbst erlischt,
um auf jeder
Treppenstufe sich
zu erneuern und dann von
selbst
wieder zu verschwinden. Welch eine Fülle von wohltätigen Einrichtungen und
bewunderungswürdigen
Erfindungen haben
uns die letzten 100 Jahre gebracht! Auch die Tatsache will ich hier
erwähnen, daß, als mein Vater zur Universität ging, er von Danzig nach
Halle volle acht Tage unterwegs war,
also eine
Strecke in acht Tagen zurücklegte, die man heute
in 9 -10
Stunden durchfährt.
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