Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

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Von der Zeit des unglücklichen Krieges, unter dessen Folgen Danzig so furchtbar zu leiden hatte und den die Großeltern miterlebten, wurde in meinem elterlichen Hause oft gesprochen und vieles erzählt. Als im Juni 1812 Napoleon selbst in Danzig erschien, um die letzten Vorbereitungen für den Zug nach Rußland zu treffen, beschied er eines Tages auch eine große Anzahl von Wagenbauern und Zimmer - und Tischlermeister zu sich auf den Hof seines Quartiers (ich glaube auf Langgarten), um sie mit der schleunigsten Anfertigung von Wagen und Wagenaufsätzen für Proviant und Munition zu beauftragen. Zu den Meistern, welche zu dem bestimmten Termin ihre Arbeiten abzuliefern hatten, gehörte auch der Grvater, und er hat den großen Kaiser selbst gesehen, wie er mit der Spitze seines Degens in den Sand des Erdbodens die Formen zeichnete, welche die Räder der Wagen und die zu festigenden Kästen haben sollten. Es ist das gewiß bewunderungswürdig, daß der Kaiser auch so geringfügigen Dingen seine Aufmerksamkeit zuwandte und ein Zeichen seiner Größe.

Am meisten hatte die arme Danziger Bevölkerung im Jahre 1813 zu leiden, als die Trümmer des Macdonaldschen 10. Armeekorps nach den Niederlagen in Rußland sich allmählich in Danzig sammelten, gegen 36.000 Mann aus allerlei Nationen. Darunter kaum noch 10.000 Mann brauchbar, und die Russen unter dem Herzoge Alexander von Württemberg, 40.000 Mann stark, Danzig belagerten und beschossen. Täglich und an den verschiedensten Stellen der Stadt wüteten Feuersbrünste, bald trat Teuerung der Lebensmittel ein (das Pfund Butter kostete 2 Taler, der Scheffel Getreide 40 Taler u.s.w.), Hungersnot entstand, und nur notdürftig konnte man sein Leben fristen und nur unter Gefahr für das Leben durch die Straßen gehen. Von dieser schrecklichen Zeit zu erzählen wurde Tante Welsch nicht müde, wie Kinder und Frauen in den Kirchen namentlich in der Barbara-Kirche auf Langgarten, vor den Kugeln der Belagerer sich zu schützen suchten, wie die Familien in den Kellerräumen sich aufhielten, wie die armen Einwohner an den Toren der Stadt darum bettelten heraus gelassen zu werden und wie auf Befehl des Herzogs von Württemberg jeder abgewiesen und in die Stadt zurückgetrieben wurde.

Auch als im Laufe des Jahres die Alliierten mit Napoleon einen achtwöchentlichen Waffenstillstand geschlossen hatten, suchte der Herzog das Abziehen der Einwohner aus der Stadt zu hindern. Damals aber gelang es doch vielen durch die Kette der Posten zu kommen, so auch dem Großvater Johann Kaspar Wüst mit den Seinigen, die in St. Albrecht bei Bekannten Aufnahme fanden. Der Großvater hatte aus besseren Tagen noch eine Anzahl von Golddukaten im Besitze, als er den Versuch machte aus der Stadt sich zu retten, und um die beutegierigen Kosaken am Petershagener Tor, welche die Spaziergänger behelligten und ihre Kleider nach Habseligkeiten durchsuchten, zu täuschen und den Rest seiner Geldmittel sich zu erhalten, hatte er einen starken Stock ausgehöhlt und Goldmünzen übereinander geschichtet dort verborgen, und den Stock als Spazierstock In der Hand schwenkend wurde er unangefochten durchgelassen.

Ein Vorgang aus dieser schlimmen Kriegszeit, der sich aber in dem Anwesen der Eltern meiner Mutter abgespielt hatte, erregte bei mir und meinen Geschwistern, sobald davon erzählt wurde, ganz besonderes Interesse. Die Eltern meiner Mutter, Fleischermeister Johann Gottfried Bulcke und seine Ehefrau Pauline geborene Remling, waren wohlhabende Leute, die zur Zeit der Napoleonischen Kriege auf dem Altstädtischen Graben zu Danzig drei nebeneinander liegenden Grundstücke besaßen in der Nähe des Haustors. Als nach der Kapitulation Danzigs im Jahre 1807 die Not groß wurde und die Gefahr, alles Hab und Gut zu verlieren, die Bürger der Stadt auf das Äußerste erregte, verfielen die Großeltern, um wenigstens das nicht unbeträchtliche bare Geld in Silber- und Goldstücken zu retten, auf einen eigenartigen Einfall. Ganz heimlich verpackten die Großeltern die Geldbestände in einer Nacht in große Futterschwingen (flache Körbe, in denen den Pferden Hafer und Häcksel in die Krippe geschüttet wird), hoben im Stallgebäude einige Bohlen des Bodenbelages heraus, mit denen die Pferdestände ausgedielt waren, und vergruben sorgfältig das Geld unter diesen Bohlen. In der nun folgenden Zeit wollte es der Zufall, daß eine Anzahl von Pferden des Französischen Gouverneurs, des Generals Rapp und seines Nachfolgers, in dem Stalle der Großeltern und in den eben erwähnten Ständen untergebracht wurden und dort während der ganzen folgenden Zeit bis zum Schluß des Krieges verblieben.

Da endlich, im Jahre 1814 (am 2. Januar streckten die Franzosen am Hagelsberge die Waffen) als alle Gefahr beseitigt war, begaben sich die Großeltern wieder zur Nachtzeit in aller Heimlichkeit ganz allein zum Stalle, entfernten die Bretter von dem Orte, wo der Schatz vergraben war, und enthoben ihm dem Verstecke. Aber o weh!
Als sie beim Schein des flackernden Lichtes in ihrer Wohnstube das Gold und das Silber auf den Tisch schütteten, zeigte es sich, daß die Silbermünzen zumal die vielen Talerstücke
, schwarz angelaufen waren. Der Urin der Pferde, die Jauche, die sich in dem Stalle gebildet hatte, war durch die Bretter die vielen Monate hindurch durchgesickert und hatte das Unheil angerichtet. Die Großmutter erzählte uns, daß sie Wochen lang bei verschlossenen Türen zu tun gehabt habe, um mit wollenen Lappen und Putzpulver alle die Münzen wieder zu reinigen, sodaß sie zur Ausgabe gelangen konnten. Diese Erzählung von der Bergung des Schatzes und seiner Hebung im Dunkel der Nacht, das Bild der Gold- und Silber reinigenden Großmutter und der Gedanke an das Gewieher und das Getrappel der Rappschen Rappen erfüllte uns, die aufhorchenden Enkelkinder, stets mit wonnigem Schauer.

Die Jungendjahre verlebte mein Vater nach dem Ende des Krieges ohne erhebliche und störende Vorkommnisse in seiner Familie. Einiges hat er in seinen Aufzeichnungen von seinen Erlebnissen in jener Zeit erwähnt. Er hatte noch zwei Brüder, Fritz, der älter, und Gustav, der jünger war als er, und eine erheblich jüngere Schwester Amalie (Malchen). Von den Brüdern ist Fritz Kaufmann, Zigarrenhändler, Gustav Zimmermeister und Holzhändler geworden, beide in ihrer Vaterstadt, beide später wohlhabende Leute, jener in der Wollwebergasse neben dem Zeughaus, dieser auf dem Steindamm neben der ehemals Behrendtschen Ölmühle. Mein Vater war der einzige von den Brüdern, der das Gymnasium besuchte; von seinem 12. Jahre ab hat sein Vater außer dem Lebensunterhalt, den Kleidern und der Wohnung keinen Pfennig geben können: bald nach seinem Eintritt in das Gymnasium erhielt er Freischule, und für die Bücher sorgten zum Teil einzelne ihm wohlgesinnte Lehrer, zum Teil kaufte er sie für Geld, das er durch Stundengeben schon als Schüler der mittleren Klassen verdiente.

Mein Vater gehörte in den Klassen immer zu den besseren Schülern, was auch durch die Zeugnisse, von denen sich einige erhalten haben (Nr. 3,4,5) erwiesen wird. Als Schüler der oberen Klassen hatte er einen großen Bekanntenkreis in Danzig, und in vielen guten Familien war er ein gern gesehener Gast, so daß er bei seinem Abgange von der Schule Michaelis 1828 und seiner Abreise nach Halle es für geboten erachtete, in der Zeitung öffentlich sich dem Wohlwollen seiner Gönner für die Zukunft zu empfehlen. Auch diese Zeitungsnotiz (wohl aus dem Danziger Intelligenzblatt) habe ich unter alten Papieren gefunden und diesen Blättern beigefügt (Nr.5).

Ich reihe an dieser Stelle zwei Momentbilder an, kulturhistorisch nicht ohne Interesse, wenn man Vergleiche zieht zwischen der Zeit vor kaum 100 Jahren und heute (1911). Da erscheint eines Tages der zehnjährige Schüler Karl Wüst an dem Schalter der einzigen Briefannahme Stelle in Danzig, wenn ich nicht irre Ecke der Langgasse und Großen Wollbergasse, und klopft zaghaft an das Fenster dieses Schalters, das nach einiger Zeit geöffnet wird. Mit den Worten "Guten Tag, Herr Aloff, der Vater läßt grüßen und bittet Sie diesen Brief abzuschicken" will Karl den Brief ihm zuschieben. Er hat sich jedoch verrechnet; denn in unwirschem Ton ruft Aloff von innen ihm zu: “Du siehst doch, lieber Sohn, daß ich jetzt keine Zeit habe, komme nach einer halben Stunde wieder". Erst als Karl nach dieser Frist wiederkehrt, wird ihm der Brief abgenommen und nachdem Karl auch noch die Kosten für die Beförderung mit einem halben Gulden erlegt hat, ist das Geschäft der Briefbesorgung beendigt.

Ein andermal kommt die Großmutter Wüst Sonntag Abend mit ihren drei Söhnen und der Tochter und mit Jette, dem Dienstmädchen, die zur Familie gerechnet wird, aus Langfuhr nach Hause, während der Großvater noch in der „Sonne“ ist. Im Hausflur ist es finster, die fünf Personen stehen da, und die Großmutter fordert ihren Ältesten auf, Licht zu schaffen. Fritz langt das Feuerzeug aus der Tasche, hält Stein und Stahl und Schwamm und Schwefelfaden kunstgerecht in den Händen und beginnt zu schlagen: Pink, pink, pink; doch der Schwamm will nicht so, wie Fritz will. “Nein, wie ungeschickt du auch heute wieder bist" ruft die Mutter, “gib alles einmal Karl, der wird schon Feuer kriegen". Nun versucht sich Karl, und pink, pink, pink, pink, klingt es wieder durch den Raum, doch wieder erfolglos; es wird dunkler und dunkler. Endlich gelingt es der lichterfahrenen Jette den Funken in dem Schwamm aufzufangen, den Schwefelfaden zu entzünden und mit ihm das Talglicht, das vorsorglich von ihr vor dem Ausgang auf den Fensterkopf des Hausflurs gestellt ist, anzustecken. Alle atmen auf, und nun erst geht es die Treppe hinauf, nach dem fünf und mehr Minuten in der Dunkelheit verbracht sind.

Wie anders heute, da beim Öffnen der Haustür das elektrische Licht ohne unser Zutun aufflammt, von selbst erlischt, um auf jeder Treppenstufe sich zu erneuern und dann von selbst wieder zu verschwinden. Welch eine Fülle von wohltätigen Einrichtungen und bewunderungswürdigen Erfindungen haben uns die letzten 100 Jahre gebracht! Auch die Tatsache will ich hier erwähnen, daß, als mein Vater zur Universität ging, er von Danzig nach Halle volle acht Tage unterwegs war, also eine Strecke in acht Tagen zurücklegte, die man heute in 9 -10 Stunden durchfährt.