Im März des Jahres
1850 wurde meinem Vater vom Danziger Magistrat als Patron die
Pfarrstelle zu Güttland im Danziger Werder, damals zum Landkreise
Danzig, jetzt zum Kreise Dirschau gehörig, übertragen, und im Frühjahr
1850 siedelten meine Eltern von Pröbbernau, wo mein Vater 17 Jahre
seines Amtes gewaltet hatte, nach der neuen Heimat über. Die Trauer in
der Gemeinde Pröbbernau um den Verlust des geliebten
Seelsorgers und seiner von Alt und Jung verehrten Frau war allgemein und
aufrichtig und ebenso die Trauer meiner Eltern, die Gemeinde, mit der
sie so eng verbunden waren, zu verlassen, aber die geringen Einnahmen
der Pröbbernauer
Stelle und die
Abgeschiedenheit des Ortes,
welche die
Erziehung und die Ausbildung der 7 Kinder von Jahr zu Jahr mehr
erschwerte,
hatten meinen
Vater doch genötigt, sich nach einer anderen Stelle umzusehen, die ihm
ein reichlicheres Einkommen bot.
Kurz vor unserer
Abreise aus
Pröbbernau hatte ich, damals fünfjährig, ein kleines Abenteuer zu
bestehen,
das mir noch
lebhaft in der Erinnerung geblieben ist. An der ganzen
Küste des frischen
Haffs ziehen sich im Haffwasser Binsenwucherungen
hin, die das Festland begleitend weit in das Haff hineinreichen, und so
dicht steht Binse an Binse,
daß man durch Abmähen und Ausroden Straßen
durch sie
herstellen muß,
um auf Booten von
einem
Anwesen zum andern, von einem Ort zum andern gelangen
zu können.
Nicht weit vom Pfarrhaus war ein
Steg in das
Wasser
des Haffs gebaut, unmittelbar
vor
dem Gasthofe
des Herrn
Ahlert,
an dem Kähne
angebunden waren
und auch größere Boote
anzulegen
pflegten.
Da hatte ich
nun von unserem
Garten
aus, in dem ich
mich
aufhalten
sollte,
nach dem
lockenden Wasser mich heimlich entfernt, hatte
ein
Boot
losgebunden, es bestiegen, und war
allmählich auf
einer durch
die Binsen
führenden Straße
weit vom Ufer
fortgetrieben
worden.
Bald hatte man zu
Hause mein Fehlen
bemerkt,
und
der
Knecht,
die Dienstmädchen,
mein ältester Bruder Karl und dessen Freund,
einer von den
Ahlerts, alle machten
sich, unablässig
meinen Namen rufend, daran auf Booten mich aufzusuchen,
was denn auch nach längerer
Zeit, in der die Meinigen
in nicht geringer Unruhe
am Ufer
harrten, gelang.
Unmittelbar nach
unserer Ankunft in Güttland, nur wenige Wochen nach dem erwähnten
Vorgange
habe ich zum zweiten
Mal mich heimlich vom
Haus
entfernt,
diesmal um nach Pröbbernau zurückzukehren, weil es mir
im
neuen Heim nicht gefiel, und schon hatte ich die große Trift,
die vom
Dorfe
nach dem
Weichseldamm führt,
erreicht, als
man mich
einholte und zurückbrachte. Als man den kleinen Ausreißer aufgegriffen
und zurückgebracht
hatte, schalt sein Vater ihn gehörig aus,
suchte ihm sein
Unrecht klar zu machen und sagte am Schluß einer
langen Strafpredigt "du würdest
ja auch unterwegs
verhungern müssen, wovon willst du denn
leben?"
- "Dann esse ich Sand" war die energische Antwort des Kleinen.
Diese
Sehnsucht nach dem
Wasser,
nach der See, ist mir bis zum heutigen
Tage verblieben,
und nur eigenartige Verhältnisse haben mich veranlaßt, im Alter statt in
der Nähe des Meeres in der Nähe des Gebirges,
in
Mitteldeutschland,
mein Zelt
aufzuschlagen.
Es ist aber wohl noch
gerade Zeit,
daß ich mit
einigen wenigen Strichen ein Bild meines Vaters und meiner
Mutter
(vergl. das Titelblatt
dieser Schrift) zu entwerfen suche. Mein Vater war von mittlerer Größe,
etwas zur Beleibtheit neigend, und kräftig gebaut; sein Haupthaar,
das schwarz
gewesen war, hatte er
frühe
eingebüßt, er trug eine glatte schwarze Perücke, ohne
die ich ihn niemals gesehen habe; seine Gesichtszüge waren wohl gebildet
und eigentlich ernst; sie nahmen aber im gemütlichen Familienkreise
und in der Gesellschaft einen liebenswürdig freundlichen Ausdruck an,
der im späteren Lebensalter sich immer mehr ausprägte und dauernd wurde;
ein dunkler Backenbart setzte sich unter dem Kinn fort und rahmte das Gesicht,
das
im
Übrigen stets glatt rasiert war,
ein. Der
Grundzug in dem Charakter meines Vaters war ein
fröhlicher zufriedener Sinn,
etwas weichmütig
und leicht gerührt. Das schloß aber nicht aus, daß er in seinem Amt von
heiligem Ernst erfüllt streng auftrat, so beim Gottesdienst, im
Konfirmandenunterricht,
der Seelsorge
und dem Unterricht seiner eigenen Kinder und der Pensionäre, die ab
und
zu ihm zugeführt wurden; mit Eifer und oft mit Herbigkeit predigte und
lehrte
er und erteilte er Zuspruch; leicht konnte er in seinen besten
Lebensjahren heftig und selbst zornig werden, wenn ihm Gleichgültigkeit,
Stumpfsinn oder
Schlechtigkeit
in irgendwelcher Form begegneten; leicht war er dann aber auch zu
beruhigen, sobald er Reue und Besserung wahrnahm, oder wenn man von ihm
Verzeihung erbat. Eine schöne
Tugend
des Vaters war sein Ordnungssinn und die
peinliche
Gewissenhaftigkeit, mit der er selbst weniger wichtige Dinge
behandelte.
Täglich notierte
er in
seinem
Kalender,
dessen roter
Einband
mir noch
vor Augen steht,
die
Temperatur
am Morgen und
den
Verlauf
der Witterung am Tage,
die eingehenden
Briefe, auch die Privatbriefe, sowie
die Schreiben,
die
er
absandte; für jedes
seiner
Kinder legte
er ein
besonderes
Aktenbündel an,
dem
Zeugnisse der
Schule,
Briefe und irgendwelche Papiere von Bedeutung
beigefügt waren,
so Quittungen
über bezahlte Rechnungen,
Geldsendungen
u.s.w.
Jedes Kind hatte seine besondere
Sparbüchse,
für jedes Kind
mußte meine Mutter die Patengeschenke unter besonderem
Verschluß halten,
und die
Erlaubnis,
sie ab und zu
betrachten
zu dürfen,
war uns Kindern
hochwillkommen
und Anlaß zu besonderer
Freude.
Als Prediger fehlte
meinem
Vater der
Schwung
der lebhaften
Phantasie
und
Beredsamkeit; er riß
die Hörer
nicht mit
sich fort,
obschon er sehr tüchtige theologische
Kenntnisse
und einen scharfen Verstand hatte;
seine
Predigten
waren
dogmatisch gehalten, daher häufig trocken,
auch
schlossen sie sich oft allzu sehr dem Bibeltext
der
Episteln und Evangelien
an, in dem
er ihn Vers
um Vers auslegte.
Größeren
Erfolg
erzielte mein
Vater
als Gelegenheitsredner,
so bei Trauungen, Begräbnissen
und Einsegnungen,
und trefflich gestaltete
er, um das auch hinzuzufügen,
den liturgischen
Teil der Gottesdienste.
Er besaß ein sehr
gutes
Organ und, wie
schon oben
erzählt wurde, eine wohlklingende Stimme in mittlerer Tonlage,
und da zu
jener
Zeit
einzelne
Teile der Liturgie von den Geistlichen
gesungen wurden, wie die kurzen Zurufe
an die Gemeinde,
der
Segen, die Einsetzungsworte
beim heiligen Abendmahl
usw.
vermochte
er
sehr eindrucksvoll
und wirksam mit seinem Gesange das Gotteshaus zu erfüllen.
In seiner Häuslichkeit
überließ mein
Vater die Ordnung der meisten äußeren Angelegenheiten,
selbst die Aufsicht
über
Stall
und
Scheune und Landwirtschaft,
meiner
Mutter, obschon er
gelegentlich auch wohl selbst einen Gang auf das Feld, auf die Wiesen
oder wo sonst die Leute bei der Arbeit waren, machte.
Den größten
Teil des Tages hatte er mit dem Unterricht seiner Kinder und der
Pensionäre zutun, die gehalten werden mußten,
um die
Einnahmen zu erhöhen. Mein Vater war ein geschickter Lehrer, der seine
Zöglinge mit Erfolg förderte. Mein ältester Bruder und meine vier
Schwestern, Marie, Mathilde, Hermine und Auguste, haben ihre ganze
wissenschaftliche Ausbildung die zwar nicht sonderlich tief, aber doch
ganz ausreichend war, durch den Vater erhalten, und mehrere Pensionäre
wurden soweit gebracht,
daß sie vor der
Kommission die Prüfung für den einjährig freiwilligen Militärdienst
ablegten oder in Sekunda eines
Gymnasiums Aufnahme fanden.
Wie der Vater selbst
die Musik liebte und zum Teil auch als älterer Mann sie selbst noch
ausübte (oft habe ich ihn "das Mädchen von Juda” von Kücken oder Arien
aus “Jessonda” von Spohr singen hören), so hielt er darauf, daß seine
Töchter Musik trieben, Klavier spielten und sangen, und er kannte keine
größere Freude als dem Spiel
seiner Töchter
und später dem seiner Schwiegertochter Martha, geborene Goldnick, die in
der Tat alle sehr Erhebliches im Klavierspiel leisteten, zuzuhören. An
den Abenden, zumal den langen Winterabenden, pflegte mein Vater, wenn er
keinen Partner für das Schachspiel fand, daß ihm besonders lieb war und
lieb blieb, den Seinigen nach dem Abendessen vorzulesen. Ich sehe im Geiste
alle die lieben Personen
in
der sogenannten grünen Stube, rechts unten vom Hausflur aus, um den
Tisch, auf
dem die hohe
Lampe aus blanken Messing brannte, deutlich sitzen, meinen Vater auf der
einen Seite, meine Mutter auf dem Sopha, ihm gegenüber, damit
beschäftigt Wäsche auszubessern
oder Strümpfe
zu stopfen, eine Schwester neben ihr auf dem Sopha, eine andere an der
Schmalseite des Tisches
und mich und meinen Bruder Fritz auf den Stühlen rechts und links vom
Sopha.
Viele der Romane von
Walter Scott mit ihren uns Kindern schier
endlos dünkenden
Einlenkungen und Naturschilderungen wurden gelesen, aber
auch anderes,
Schillers Dramen
oder
Erzählungen von der Nathusius und ähnliche Sachen;
von
Goethe wurde nie etwas gelesen,
weil meine
Mutter seine Werke für ungeeignet
zum Vorlesen hielt, weil sie vielfach anstößig oder gar unsittlich seien.
Nicht unerwähnt
darf ich bei dieser Gelegenheit
die täglichen Morgenandachten lassen, die mein Vater in seiner frommen
Art mit der Familie und dem Gesinde abhielt.
Es wurde ein
Abschnitt
aus der Bibel
verlesen, wobei die Anwesenden saßen; dann erhoben wir uns von unseren Sitzen,
und mein Vater sprach ein kurzes freies Gebet, worauf
wir uns, indem
wir Geschwister Vater und Mutter einen
Kuß gaben,
guten Morgen wünschten und
dann an den
Frühstückstisch,
der in dem Nebenzimmer
gedeckt war,
eilten.
Zweimal
- auch dessen
erinnere ich
mich
mit voller Deutlichkeit
-
wurden wir zu einer
außerordentlichen Andacht in der “blauen Stube",
links vom Hausflur
aus, zusammen
gerufen, einmal als eine kleine Schwester Franziska, und ein anderes
Mal, als ein kleiner Bruder, Walter,
gestorben waren; in diesen beiden Fällen sprach mein
Vater knieend
ein freies Gebet, und wir mußten
ebenfalls
knieend der Andacht beiwohnen.
Eine sehr
glückliche
Ergänzung seines Wesens hatte mein Vater in seiner Frau,
meiner
Mutter, gefunden, mit der er in glücklicher Ehe verbunden war. Ich erinnere
mich nicht, daß
die Eltern
jemals einen ernstlichen Streit gehabt haben: stets herrschte völlige
Übereinstimmung
und die schönste Harmonie unter
ihnen. Meine
Mutter war eine schöne stattliche Erscheinung, wie sie fast allen
Gliedern der Familie Bulcke, der früheren und der jetzigen Generation,
eigen gewesen
ist und noch eigen ist. Eine freie Stirn, eine fein geschnittene, ein
wenig gebogene Nase, ruhige klare graue Augen verliehen dem Gesicht
einen vornehmen
Charakter, den es auch bis in das später
Greisenalter
beibehielt. Man konnte meine Mutter nicht eine zärtliche Mutter nennen;
ich habe nie gesehen, daß sie eins ihrer Kinder liebkoste, herzte und
schmeichelnd küßte, mit ihm tändelte oder es mit zärtlichen Kosenamen
anredete. Die Zahl ihrer Kinder war wohl zu groß - es waren ihrer elf -,
so daß sie keine Zeit hatte sich mit den einzelnen
müßig
abzugeben: immer hatte sie zu schaffen in Küche und Keller, im Garten
und bei der Wäsche, in und außer dem Hause. Kamen aber einmal Stunden
und Tage, in denen
für sie weniger
zu tun war, dann konnte sie die kleineren Kinder auch wohl um sich
versammeln und ihnen schöne Märchen erzählen,
unter denen wir
die Geschichte vom goldenen Rehbock am liebsten·
hörten,
die
sie denn auch auf
allgemeines Verlangen
und Drängen immer
wieder erzählte.
Die einzige Stunde,
die meine Mutter
am
Tage
sich für Zwiesprache
und
Aussprache mit meinem Vater
frei
hielt,
war die Stunde
unmittelbar nach dem Mittagessen. Dann las mein Vater
der Mutter, die
ein sehr lebhaftes Interesse und ein
gutes
Verständnis für alle politischen
und alle
Tagesfragen hatte und auf allen Gebieten, auch in kirchlichen
Angelegenheiten, genau Bescheid
wußte, aus der Zeitung, der Danziger Zeitung oder dem Danziger Dampfboot
vor oder verhandelte mit ihr Fragen, welche die engere und weitere
Familie betreffen und ihr Verhältnis zu Freunden und Bekannten. Ebenso
wie meinen Vater erfüllte meine Mutter ein wahrhaft christlicher frommer
Sinn; und ein Ausfluß ihrer Frömmigkeit waren die Heiterkeit
ihres Gemüts und ihre Mildtätigkeit. Trotz der großen Arbeitslast, die
auf ihr ruhte, war meine Mutter selten verdrießlich und unlustig,
sondern allen Hausgenossen bewies sie Freundlichkeit und fröhliches
Entgegenkommen; nur mit einer ältlichen Kusine von mir, "Tante"
Lienchen, einer Tochter des ältesten Bruders meines Vaters, die viele
Jahre in Güttland in meinem elterlichen Hause lebte, befand sie sich oft
in schlimmer Fehde, wenn diese Anordnungen nicht in gewünschter Weise
ausführte oder gänzlich mißverstand. Von der Wohltätigkeit und ihrer
Bereitwilligkeit zu helfen hätten die Witwen aus dem Güttländer
Armenhause, der "Dorfkate" erzählen können : an verschiedenen Tagen in
der Woche, namentlich an den Sonntagen, standen in der Küche
aneinandergereiht die Töpfe und Näpfe derer, die eine warme Suppe und
ein Stückchen Fleisch zu ihrer Stärkung brauchten, und gefüllt wurden
sie abgeholt oder den Bedürftigen zugestellt. In schöner Harmonie haben
meine Eltern bis zu meines Vaters Tode ihre Jahre hingebracht, wie mein
Vater denn nicht müde wurde, meiner Mutter für alles zu danken, was sie
Gutes und Liebes in stillen Wirken getan hatte.
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