Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

Teil 01 Teil 02 Teil 03 Teil 04 Teil 05 Teil 06 Teil 07 Teil 08
Einschub:

Die Nachkommen von Carl Theodor Gotthilf Wüst
* Danzig
06.02.1808, † Güttland 29.12.1876

∞ Danzig mit 21.05.1833 Laura Friedericke Hoffert, * Danzig ca. 1814, † Pröbbernau 26.11.1834

Kinder:

1) Carl Johannes Theodor, * Pröbbernau 29.05.1834, †  Pröbbernau
    22.04.1835

∞ 05.11.1835 mit Pauline Mathilda Bulcke, * Danzig 08.03.1810,
    † Danzig 06.03.1893

Kinder:

1) Carl Theodor, * Güttland 19.10.1836, †  Güttland 18.06.1894
    ∞ 01.1875 mit
Luise Emilie Bulcke

2) Marie Johanne, Pröbbernau 19.10.1838, † Stettin 23.11.1866.
    ∞ mit Franz Karl Michael Fuhrmann

3) Mathilde Christiane, * Pröbbernau 24.11.1840, † Orle 1876
    ∞ Peter Franz Maximilian Chomse

4) Hermine Margareta, * Pröbbernau 28.06.1843, † 16.03.1909
    ∞ Franz Karl Michael Fuhrmann

5) Ernst Leberecht, * Pröbbernau 06.12.1844, † Jena 21.01.1914
    ∞ Lessen 11.10.1870 mit Martha Louise Charlotte Goldnick

6) Friedrich Gustav "Fritz", * Danzig  24.08.1846, † Danzig  28.10.1912
    ∞ mit Jenny Bulcke

7) Auguste Louise, * Pröbbernau 19.05.1848 † Orle 02.06.1907
    ∞ Ferdinand Gustav Adolph Chomse

8) Johannes Hermann, * Pröbbernau  14.01.1850, † Jablonowo 1891
    ∞ mit Doris von Lübtow

9) Richard Albert, * 23.06.1851, † Metz 17.09.1872

 

Im März des Jahres 1850 wurde meinem Vater vom Danziger Magistrat als Patron die Pfarrstelle zu Güttland im Danziger Werder, damals zum Landkreise Danzig, jetzt zum Kreise Dirschau gehörig, übertragen, und im Frühjahr 1850 siedelten meine Eltern von Pröbbernau, wo mein Vater 17 Jahre seines Amtes gewaltet hatte, nach der neuen Heimat über. Die Trauer in der Gemeinde Pröbbernau um den Verlust des geliebten Seelsorgers und seiner von Alt und Jung verehrten Frau war allgemein und aufrichtig und ebenso die Trauer meiner Eltern, die Gemeinde, mit der sie so eng verbunden waren, zu verlassen, aber die geringen Einnahmen der Pröbbernauer Stelle und die Abgeschiedenheit des Ortes, welche die Erziehung und die Ausbildung der 7 Kinder von Jahr zu Jahr mehr erschwerte, hatten meinen Vater doch genötigt, sich nach einer anderen Stelle umzusehen, die ihm ein reichlicheres Einkommen bot.

Kurz vor unserer Abreise aus Pröbbernau hatte ich, damals fünfjährig, ein kleines Abenteuer zu bestehen, das mir noch lebhaft in der Erinnerung geblieben ist. An der ganzen Küste des frischen Haffs ziehen sich im Haffwasser Binsenwucherungen hin, die das Festland begleitend weit in das Haff hineinreichen, und so dicht steht Binse an Binse, daß man durch Abmähen und Ausroden Straßen durch sie herstellen muß, um auf Booten von einem Anwesen zum andern, von einem Ort zum andern gelangen zu können. Nicht weit vom Pfarrhaus war ein Steg in das Wasser des Haffs gebaut, unmittelbar vor dem Gasthofe des Herrn Ahlert, an dem Kähne angebunden waren und auch größere Boote anzulegen pflegten. Da hatte ich nun von unserem Garten aus, in dem ich mich aufhalten sollte, nach dem lockenden Wasser mich heimlich entfernt, hatte ein Boot losgebunden, es bestiegen, und war allmählich auf einer durch die Binsen führenden Straße weit vom Ufer fortgetrieben worden. Bald hatte man zu Hause mein Fehlen bemerkt, und der Knecht, die Dienstmädchen, mein ältester Bruder Karl und dessen Freund, einer von den Ahlerts, alle machten sich, unablässig meinen Namen rufend, daran auf Booten mich aufzusuchen, was denn auch nach längerer Zeit, in der die Meinigen in nicht geringer Unruhe am Ufer harrten, gelang.

Unmittelbar nach unserer Ankunft in Güttland, nur wenige Wochen nach dem erwähnten Vorgange habe ich zum zweiten Mal mich heimlich vom Haus entfernt, diesmal um nach Pröbbernau zurückzukehren, weil es mir im neuen Heim nicht gefiel, und schon hatte ich die große Trift, die vom Dorfe nach dem Weichseldamm führt, erreicht, als man mich einholte und zurückbrachte. Als man den kleinen Ausreißer aufgegriffen und zurückgebracht hatte, schalt sein Vater ihn gehörig aus, suchte ihm sein Unrecht klar zu machen und sagte am Schluß einer langen Strafpredigt "du würdest ja auch unterwegs verhungern müssen, wovon willst du denn leben?" - "Dann esse ich Sand" war die energische Antwort des Kleinen.

Diese Sehnsucht nach dem Wasser, nach der See, ist mir bis zum heutigen Tage verblieben, und nur eigenartige Verhältnisse haben mich veranlaßt, im Alter statt in der Nähe des Meeres in der Nähe des Gebirges, in Mitteldeutschland, mein Zelt aufzuschlagen.

Es ist aber wohl noch gerade Zeit, daß ich mit einigen wenigen Strichen ein Bild meines Vaters und meiner Mutter (vergl. das Titelblatt dieser Schrift) zu entwerfen suche. Mein Vater war von mittlerer Größe, etwas zur Beleibtheit neigend, und kräftig gebaut; sein Haupthaar, das schwarz gewesen war, hatte er frühe eingebüßt, er trug eine glatte schwarze Perücke, ohne die ich ihn niemals gesehen habe; seine Gesichtszüge waren wohl gebildet und eigentlich ernst; sie nahmen aber im gemütlichen Familienkreise und in der Gesellschaft einen liebenswürdig freundlichen Ausdruck an, der im späteren Lebensalter sich immer mehr ausprägte und dauernd wurde; ein dunkler Backenbart setzte sich unter dem Kinn fort und rahmte das Gesicht, das im Übrigen stets glatt rasiert war, ein. Der Grundzug in dem Charakter meines Vaters war ein fröhlicher zufriedener Sinn, etwas weichmütig und leicht gerührt. Das schloß aber nicht aus, daß er in seinem Amt von heiligem Ernst erfüllt streng auftrat, so beim Gottesdienst, im Konfirmandenunterricht, der Seelsorge und dem Unterricht seiner eigenen Kinder und der Pensionäre, die ab und zu ihm zugeführt wurden; mit Eifer und oft mit Herbigkeit predigte und lehrte er und erteilte er Zuspruch; leicht konnte er in seinen besten Lebensjahren heftig und selbst zornig werden, wenn ihm Gleichgültigkeit, Stumpfsinn oder Schlechtigkeit in irgendwelcher Form begegneten; leicht war er dann aber auch zu beruhigen, sobald er Reue und Besserung wahrnahm, oder wenn man von ihm Verzeihung erbat. Eine schöne Tugend des Vaters war sein Ordnungssinn und die peinliche Gewissenhaftigkeit, mit der er selbst weniger wichtige Dinge behandelte. Täglich notierte er in seinem Kalender, dessen roter Einband mir noch vor Augen steht, die Temperatur am Morgen und den Verlauf der Witterung am Tage, die eingehenden Briefe, auch die Privatbriefe, sowie die Schreiben, die er absandte; für jedes seiner Kinder legte er ein besonderes Aktenbündel an, dem Zeugnisse der Schule, Briefe und irgendwelche Papiere von Bedeutung beigefügt waren, so Quittungen über bezahlte Rechnungen, Geldsendungen u.s.w. Jedes Kind hatte seine besondere Sparbüchse, für jedes Kind mußte meine Mutter die Patengeschenke unter besonderem Verschluß halten, und die Erlaubnis, sie ab und zu betrachten zu dürfen, war uns Kindern hochwillkommen und Anlaß zu besonderer Freude.

Als Prediger fehlte meinem Vater der Schwung der lebhaften Phantasie und Beredsamkeit; er riß die Hörer nicht mit sich fort, obschon er sehr tüchtige theologische Kenntnisse und einen scharfen Verstand hatte; seine Predigten waren dogmatisch gehalten, daher häufig trocken, auch schlossen sie sich oft allzu sehr dem Bibeltext der Episteln und Evangelien an, in dem er ihn Vers um Vers auslegte. Größeren Erfolg erzielte mein Vater als Gelegenheitsredner, so bei Trauungen, Begräbnissen und Einsegnungen, und trefflich gestaltete er, um das auch hinzuzufügen, den liturgischen Teil der Gottesdienste. Er besaß ein sehr gutes Organ und, wie schon oben erzählt wurde, eine wohlklingende Stimme in mittlerer Tonlage, und da zu jener Zeit einzelne Teile der Liturgie von den Geistlichen gesungen wurden, wie die kurzen Zurufe an die Gemeinde, der Segen, die Einsetzungsworte beim heiligen Abendmahl usw. vermochte er sehr eindrucksvoll und wirksam mit seinem Gesange das Gotteshaus zu erfüllen.

In seiner Häuslichkeit überließ mein Vater die Ordnung der meisten äußeren Angelegenheiten, selbst die Aufsicht über Stall und Scheune und Landwirtschaft, meiner Mutter, obschon er gelegentlich auch wohl selbst einen Gang auf das Feld, auf die Wiesen oder wo sonst die Leute bei der Arbeit waren, machte. Den größten Teil des Tages hatte er mit dem Unterricht seiner Kinder und der Pensionäre zutun, die gehalten werden mußten, um die Einnahmen zu erhöhen. Mein Vater war ein geschickter Lehrer, der seine Zöglinge mit Erfolg förderte. Mein ältester Bruder und meine vier Schwestern, Marie, Mathilde, Hermine und Auguste, haben ihre ganze wissenschaftliche Ausbildung die zwar nicht sonderlich tief, aber doch ganz ausreichend war, durch den Vater erhalten, und mehrere Pensionäre wurden soweit gebracht, daß sie vor der Kommission die Prüfung für den einjährig freiwilligen Militärdienst ablegten oder in Sekunda eines Gymnasiums Aufnahme fanden.

Wie der Vater selbst die Musik liebte und zum Teil auch als älterer Mann sie selbst noch ausübte (oft habe ich ihn "das Mädchen von Juda” von Kücken oder Arien aus “Jessonda” von Spohr singen hören), so hielt er darauf, daß seine Töchter Musik trieben, Klavier spielten und sangen, und er kannte keine größere Freude als dem Spiel seiner Töchter und später dem seiner Schwiegertochter Martha, geborene Goldnick, die in der Tat alle sehr Erhebliches im Klavierspiel leisteten, zuzuhören. An den Abenden, zumal den langen Winterabenden, pflegte mein Vater, wenn er keinen Partner für das Schachspiel fand, daß ihm besonders lieb war und lieb blieb, den Seinigen nach dem Abendessen vorzulesen. Ich sehe im Geiste alle die lieben Personen in der sogenannten grünen Stube, rechts unten vom Hausflur aus, um den Tisch, auf dem die hohe Lampe aus blanken Messing brannte, deutlich sitzen, meinen Vater auf der einen Seite, meine Mutter auf dem Sopha, ihm gegenüber, damit beschäftigt Wäsche auszubessern oder Strümpfe zu stopfen, eine Schwester neben ihr auf dem Sopha, eine andere an der Schmalseite des Tisches und mich und meinen Bruder Fritz auf den Stühlen rechts und links vom Sopha.

Viele der Romane von Walter Scott mit ihren uns Kindern schier endlos dünkenden Einlenkungen und Naturschilderungen wurden gelesen, aber auch anderes, Schillers Dramen oder Erzählungen von der Nathusius und ähnliche Sachen; von Goethe wurde nie etwas gelesen, weil meine Mutter seine Werke für ungeeignet zum Vorlesen hielt, weil sie vielfach anstößig oder gar unsittlich seien. Nicht unerwähnt darf ich bei dieser Gelegenheit die täglichen Morgenandachten lassen, die mein Vater in seiner frommen Art mit der Familie und dem Gesinde abhielt. Es wurde ein Abschnitt aus der Bibel verlesen, wobei die Anwesenden saßen; dann erhoben wir uns von unseren Sitzen, und mein Vater sprach ein kurzes freies Gebet, worauf wir uns, indem wir Geschwister Vater und Mutter einen Kuß gaben, guten Morgen wünschten und dann an den Frühstückstisch, der in dem Nebenzimmer gedeckt war, eilten. Zweimal - auch dessen erinnere ich mich mit voller Deutlichkeit - wurden wir zu einer außerordentlichen Andacht in der “blauen Stube", links vom Hausflur aus, zusammen gerufen, einmal als eine kleine Schwester Franziska, und ein anderes Mal, als ein kleiner Bruder, Walter, gestorben waren; in diesen beiden Fällen sprach mein Vater knieend ein freies Gebet, und wir mußten ebenfalls knieend der Andacht beiwohnen.

Eine sehr glückliche Ergänzung seines Wesens hatte mein Vater in seiner Frau, meiner Mutter, gefunden, mit der er in glücklicher Ehe verbunden war. Ich erinnere mich nicht, daß die Eltern jemals einen ernstlichen Streit gehabt haben: stets herrschte völlige Übereinstimmung und die schönste Harmonie unter ihnen. Meine Mutter war eine schöne stattliche Erscheinung, wie sie fast allen Gliedern der Familie Bulcke, der früheren und der jetzigen Generation, eigen gewesen ist und noch eigen ist. Eine freie Stirn, eine fein geschnittene, ein wenig gebogene Nase, ruhige klare graue Augen verliehen dem Gesicht einen vornehmen Charakter, den es auch bis in das später Greisenalter beibehielt. Man konnte meine Mutter nicht eine zärtliche Mutter nennen; ich habe nie gesehen, daß sie eins ihrer Kinder liebkoste, herzte und schmeichelnd küßte, mit ihm tändelte oder es mit zärtlichen Kosenamen anredete. Die Zahl ihrer Kinder war wohl zu groß - es waren ihrer elf -, so daß sie keine Zeit hatte sich mit den einzelnen müßig abzugeben: immer hatte sie zu schaffen in Küche und Keller, im Garten und bei der Wäsche, in und außer dem Hause. Kamen aber einmal Stunden und Tage, in denen für sie weniger zu tun war, dann konnte sie die kleineren Kinder auch wohl um sich versammeln und ihnen schöne Märchen erzählen, unter denen wir die Geschichte vom goldenen Rehbock am liebsten· hörten, die sie denn auch auf allgemeines Verlangen und Drängen immer wieder erzählte.

Die einzige Stunde, die meine Mutter am Tage sich für Zwiesprache und Aussprache mit meinem Vater frei hielt, war die Stunde unmittelbar nach dem Mittagessen. Dann las mein Vater der Mutter, die ein sehr lebhaftes Interesse und ein gutes Verständnis für alle politischen und alle Tagesfragen hatte und auf allen Gebieten, auch in kirchlichen Angelegenheiten, genau Bescheid wußte, aus der Zeitung, der Danziger Zeitung oder dem Danziger Dampfboot vor oder verhandelte mit ihr Fragen, welche die engere und weitere Familie betreffen und ihr Verhältnis zu Freunden und Bekannten. Ebenso wie meinen Vater erfüllte meine Mutter ein wahrhaft christlicher frommer Sinn; und ein Ausfluß ihrer Frömmigkeit waren die Heiterkeit ihres Gemüts und ihre Mildtätigkeit. Trotz der großen Arbeitslast, die auf ihr ruhte, war meine Mutter selten verdrießlich und unlustig, sondern allen Hausgenossen bewies sie Freundlichkeit und fröhliches Entgegenkommen; nur mit einer ältlichen Kusine von mir, "Tante" Lienchen, einer Tochter des ältesten Bruders meines Vaters, die viele Jahre in Güttland in meinem elterlichen Hause lebte, befand sie sich oft in schlimmer Fehde, wenn diese Anordnungen nicht in gewünschter Weise ausführte oder gänzlich mißverstand. Von der Wohltätigkeit und ihrer Bereitwilligkeit zu helfen hätten die Witwen aus dem Güttländer Armenhause, der "Dorfkate" erzählen können : an verschiedenen Tagen in der Woche, namentlich an den Sonntagen, standen in der Küche aneinandergereiht die Töpfe und Näpfe derer, die eine warme Suppe und ein Stückchen Fleisch zu ihrer Stärkung brauchten, und gefüllt wurden sie abgeholt oder den Bedürftigen zugestellt. In schöner Harmonie haben meine Eltern bis zu meines Vaters Tode ihre Jahre hingebracht, wie mein Vater denn nicht müde wurde, meiner Mutter für alles zu danken, was sie Gutes und Liebes in stillen Wirken getan hatte.