Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

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Erfreulich gestalteten sich die Pröbbernauer Jahre für meine Eltern auch insofern, als es ihnen trotz der Abgelegenheit des Heimatdorfes an anregendem Verkehr, an Besuchen, die sie machten und die sie empfingen, nicht fehlte. Eine innige und aufrichtige Freundschaft verband sie bald mit der Familie des Superintendenten Weickmann in Kobbelgrube und Steegen, einem Dorfe auf der Nehrung dagelegen, wo die Halbinsel vom Festlande sich loslöst. Klärchen, Luischen, Dorette (Dorothea) Weickmann und ihre Brüder, von denen einer als Korvettenkapitän im Kriege 1870/71 zur See sich auszeichnete, waren ebenso wie der alte Superintendent, ihr Vater, den ich mir mit der langen Tabakspfeife in der Hand und dem Käppchen auf dem Kopfe noch gut vorstellen kann, und wie ihre Mutter in ihrem weißen Häubchen liebe und häufige Gäste in meinem elterlichen Hause, und der Verkehr zwischen den Familien hörte auch nicht auf, als meine Eltern später nach Güttland gezogen waren.

 

Bald nach dem mein Vater sein Amt in Pröbbernau angetreten hatte, war er auch mit dem Rittergutsbesitzer Birkner auf Cadinen bei Elbing bekannt geworden, dem Vater des nachmaligen Landrats Birkner, welcher im Alter seine Besitzung an den Kaiser Wilhelm II. gegen eine lebenslängliche Rente abtrat. Birkner fand an meinem Vater, der ein sehr guter Erzähler und Gesellschafter war, großes Wohlgefallen, und Fahrten über das Haff nach dem herrlich gelegenen Cadinen, im Sommer auf großem Fischerboot, im Winter zu Schlitten, waren nicht selten. Gelegentlich wurden auch einige der Kinder, derer im Laufe der Zeit acht in Pröbbernau geboren wurden, nach Cadinen mitgenommen, und ich erinnere mich, daß meine älteren Geschwister einmal von zwei Rentieren uns jüngeren erzählten, die Herr Birkner sich aus Norwegen hatte schicken lassen, um sie gezähmt vor den Schlitten zu spannen. Auf einer dieser Fahrten, einer Winterschlittenfahrt, geschah es, daß das Eis des Haffs, das bei der Hinfahrt fest und stark gewesen war, auf der Heimfahrt bei plötzlichen Umschlagen des Windes auseinander barst und große Spalten entstanden, so daß die Insassen des Schlittens in große Gefahr gerieten. Wiederholt mußte der Schlitten, so oft er an eine "Blänke" kam halt machen. Dann wurden mit eisernen Harken, deren mehrere auf dem Schlitten bei solchen winterlichen Fahrten über das Haff vorsorglich mitgenommen zu werden pflegten, von dem Kutscher durch meinen Vater unterstützt, von dem noch feststehenden Eise große Tafeln losgelöst und in die Lücken des Eises geschoben, worauf zunächst die ausgespannten Pferde, sodann die Teilnehmer an der Fahrt, zuletzt der Schlitten behutsam über die lose Eisscholle auf die feste Eisfläche hinüber geführt wurden.

Den am Haff wohnenden Leuten waren solche Zwischenfälle, auf die sie bei ihren Schlittenfahrten nach Elbing immer gefaßt sein mußten, nichts Ungewöhnliches, und so suchte auch bei dieser Gelegenheit und in dieser Not der Fischer Gnoyke die Meinigen zu beruhigen und ihnen Mut zuzusprechen, sie dankten aber doch Gott für ihre Rettung, als sie glücklich zu Hause angelangt waren. Da ich hier von weiteren Fahrten spreche, will ich zugleich erwähnen, daß ab und zu, namentlich im Winter, wenn die Schlittbahn gut war, meine Eltern mit einigen der Kinder auch nach Danzig und Güttland, wo die Eltern meiner Mutter eine schöne Besitzung, einen Hof, hatten, zu fahren pflegten und sich so eine Abwechslung und Erfrischung schufen. Solche Reisen nahmen immer mehrere Tage in Anspruch.

Auch an eine dieser Fahrten nach Güttland knüpft sich eine Erinnerung für mich, die zu erzählen mir besondere Freude macht, da der praktische und humorvolle Sinn meiner Großmutter Bulcke, einer überaus entschlossenen und tatkräftigen Frau, die ich schon oben erwähnen mußte, dabei wieder einmal deutlich zum Ausdruck kam. Es war bitter kalt, als der Schlitten bald nach dem ersten Frühstück unter der Vorlaube des Wohnhauses in Güttland vorfuhr, um uns über Stüblau, Käsemark, Steegen wieder nach Pröbbernau zu bringen. Die Großmutter fürchtete für die drei Enkelkinder, sie möchten, obschon in Tücher und Decken gehüllt, an den Füßen allzusehr frieren, und ließ uns, die wir unsere Plätze schon eingenommen hatten, wieder vom Schlitten herabheben: ihr war ein Gedanke gekommen, wie wir die Kälte weniger fühlen würden. Mit dem Hofmeister Sperling verschwand sie im Stalle, ließ einem großen Ferkel die Vorder- und Hinterbeine zusammenbinden, das Tier dann in einen Sack stecken und es in solcher Verpackung uns Kindern im Schlitten unter die Füße legen, damit es als lebendige Wärmflasche diese den weiten Weg hin warm halten sollte. Dem Tiere, das anfänglich natürlich sich unruhig gebärdete, dann aber stumm und geduldig sich in sein Schicksal ergeben hatte, bekam die Fahrt nicht übel, und meine Eltern konnten in Pröbbernau angelangt, überdies ihrem Viehstande ein wertvolles Stück hinzufügen.

Wir Kinder aber kamen wirklich mit einigermaßen warmen Füßen zu Hause an und empfanden die Fahrt von Güttland unter so eigenartigen Umständen als ein interessantes Ereignis, von dem noch lange nachher erzählt wurde. Der Grund, weshalb mein Großvater mütterlicherseits, der Fleischermeister und "Großbürger" Joh. Gottfr. Bulcke aus Danzig - Neufahrwasser, die Besitzung in Güttland, eine der wertvollsten und größten des Dorfes, erworben hatte, war ganz eigenartig. Der Großvater hatte in jedem Jahre sehr erhebliche Fleischlieferungen für die aus Danzig ausgehenden Kauffahrteischiffe aber auch für die englische Marine auszuführen und war daher genötigt, alljährlich eine große Herde Ochsen aufzukaufen, die fett gemacht werden mußten. Bis tief nach Polen und Rußland schickte er seine Aufkäufer, und namentlich waren es die schweren podolischen Ochsen, jene blaugrauen schönen Tiere, die die Aufkäufer heimwärts trieben. Auf den üppigen Weideplätzen des Werders erholten sich dann die von dem langen und anstrengenden Marsche ermüdeten Tiere erfahrungsmäßig am schnellsten und besten, und so kam es, daß die reichen Danziger Fleischermeister hier und dort im Werder Besitzungen kauften und so auch mein Großvater Bulcke. Der Güttländer Hof, der damals bald nach dem Napoleonischen Kriege für einen geringen Preis erstanden war, wurde später, kurz vor dem Tode des Großvaters, für eine große Summe verkauft und ging in den Besitz der Familie Ortmann, dann später in den eines Herren Paul Wannow über; das Wohnhaus, das zum Besitztum gehört, liegt auf der linken Seite der Mottlau und ist, wenn man von Dirschau in Güttland einfährt, das erste große Haus, ein Laubenhaus, auf dem linken Mottlau-Ufer unmittelbar neben der über den Fluß führenden Brücke.

Eine sehr erwünschte Abwechslung in ihrer Abgeschiedenheit brachte meinen Eltern alljährlich der Besuch der Forstdeputation, die im Aufrage des Danziger Magistrats, den der Stadt Danzig gehörenden großen Wald auf der frischen Nehrung bereisten und die Amtsführung der Forstbeamten prüfte. Die dieser Forstdeputation angehörenden Herren, Stadträte und Stadtverordnete, denen sich meistens der älteste Bruder meines Vaters, Fritz Wüst, der damals sehr bekannte Zigarrenhändler aus der Wollwebergasse, angeschlossen hatte, fanden in dem Pfarrhause zu Pröbbernau für einen Abend und eine Nacht willkommene gastliche Aufnahme, und, um meinen Eltern keine Unkosten durch ihren Besuch zu verursachen, brachten sie jedesmal alle möglichen Esswaren und gute Weine mit, so daß man mit ihnen fröhliche Stunden verlebte.

Als später der Badeort Kahlberg von Sommergästen mehr und mehr besucht zu werden anfing, konnten meine Eltern in den Sommermonaten wenigstens nicht mehr über Mangel an Zerstreuung und anregender Unterhaltung klagen. Sehr viele Herren und Damen aus der Kahlberger Badegesellschaft, selbst solche, zu denen meine Eltern bisher gar keine Beziehungen gehabt hatten, besuchten das freundliche benachbarte Fischer- und Kirchdorf Pröbbernau, kamen an Sonntagen zur Kirche, stellten sich dem Pfarrer und dessen Familie vor und weilten sehr gerne einige Stunden in dem Pfarrhause, dessen Tür in einer überdachten Loggia lag, unter den schattigen Lindenbäumen und in dem Gärtchen vor dem Hause. Bei allen Besuchen, die mein Vater machte und die er empfing, lugte er scharf nach solchen Männern aus, die Schach spielen konnten. Er war ein recht guter und fast leidenschaftlicher Schachspieler, mit dem ich viele hundert Partien später gespielt habe, ja, am Schachbrett konnte er, der sonst zeitig, d.h. meistens um 10 Uhr zu Bett zu gehen gewohnt war, bis in die Nacht hinein weilen. Selbst unter den Fischern fand er einen, der freilich auch der wohlhabendste Eigentümer des Ortes war und gewisser Bildung nicht ermangelte, den er das Schachspiel lehren konnte und mit dem er dann oft das geliebte Spiel spielte. Viele Stunden verbrachten meine Eltern in den ersten Jahren ihrer Ehe in Pröbbernau auch mit dem gemeinschaftlichen Studium der englischen Sprache. Meine Mutter beherrschte in ihrer Jugend, in Folge ihres fortwährenden Verkehrs mit englischen Kapitänen und Handelsleuten in ihrem elterlichen Hause zu Neufahrwasser, das Englische ganz und gar und hatte auch in ihrer Ehe soviel davon hinüber gerettet, daß sie Lehrerin und mein Vater der gelehrige Schüler war. Leichte englische Schriftsteller vermochte mein Vater bald fließend zu übersetzen wie z.B. den Vicar of Wakefield von Goldsmith u.a.

Die gesamte Tätigkeit meines Vaters in Pröbbernau, seine seelsorgerische ebenso wie die auf sozialem Gebiet, fand bei der kirchlichen Behörde von Anfang an eine sehr wohlwollende Beurteilung. Das zeigte sich auch darin, daß er im Dezember 1844 einer der wenigen Geistlichen der Provinz Westpreußen war, der neben den Superintendenten zur ersten preußischen Provinzialsynode, die in Königsberg stattfand, einberufen wurde. Während mein Vater in Königsberg weilte, wurde ihm sein zweiter Sohn, der Schreiber dieser Zeilen, geboren, bei welchem der Generalsuperintendent der Provinz Preußen D. Ernst Satorius eine Patenstelle durch Stellvertretung übernahm und welcher nach diesem Paten seinen Vornamen "Ernst" bekam. Als zweiten Vornamen erhielt Ernst den Namen “Leberecht", was in der Folge oft zu Scherzen und Neckereien Anlaß gab, in dem man "Ernst Leberecht Wüst" in "Ernst, lebe recht wüst" verwandelte. Übrigens bot meinem Vater die Königsberger Synode reiche geistige Anregung, da er nicht nur Gelegenheit fand, alte Freunde wieder zu sehen und neue Beziehungen anzuknüpfen, sondern auch in Kreise kam, die ihm sonst nicht so leicht zugänglich waren; der Oberpräsident, der Generalsuperintendent und andere hohe Beamte luden die Mitglieder der Synode zu Gesellschaften ein, bei denen manch gutes und kluges Wort gesprochen ward: immer wieder zeichneten sich nach meines Vaters Bericht in den Gesellschaften ebenso wie in den Sitzungen der Synode und sonstigen Veranstaltungen der Generalsuperintendent D. Sartorius und der Konsistorialrat Lic. Dr. Bressler aus Danzig durch ihre geistreichen Ansprachen und durch Schlagfertigkeit des Wortes in den Debatten aus.

Kadyny - Cadinen

"1898 überließ der verschuldete Braunsberger Landrat Arthur Birkner den Landsitz dem deutschen Kaiser Wilhelm II., der ihn zu seiner Sommerresidenz ausbauen ließ."