Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

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An Begebenheiten außergewöhnlicher Art, die das ruhige Leben im Pfarrhause unterbrachen und seine Bewohner in Erregung brachten, fehlte es natürlich nicht. Zweimal unternahmen die Eltern in den 50er Jahren weitere Reisen, die damals noch von sich reden machten, nach Berlin, der Sächsischen Schweiz, nach dem Harz und nach Thüringen; einmal reiste mein Vater allein nach Vlotho in Westfalen, wo ein Neffe von ihm, der älteste Sohn seines ältesten Bruders Fritz, in der Familie "Vetter Fritz" oder schlechthin "der Vetter" genannt, seine Hochzeit feierte und wo mein Vater im Hause des Kommerzienrats Brandt, des Brautvaters, schöne und genußreiche Tage, die ihn auch nach der Porta Westfalika und dem Teutoburger Walde führten, verlebt hat.

Kirche in Güttland

Von großer Wichtigkeit für die Ortschaft Güttland und seine Einwohner war die Eröffnung der Ostbahn mit der Abzweigung Dirschau-Danzig am 5.August 1852, durch welche der Verkehr mit Danzig wesentlich erleichtert wurde, in dem man nur mehr von dem eine kleine Stunde von Güttland entfernten Bahnhof Hohenstein die Fahrt nach Danzig mit der Eisenbahn in 40 Minuten zurücklegen konnten und die ganze Reise von Güttland nach Danzig 1 ½ Stunden erforderte. Ich erinnere mich noch deutlich, daß mein Vater in den ersten Tagen nach der Eröffnung der Bahn, mit einem Fernrohr vom Bodenfenster aus die von Dirschau nach Hohenstein dampfenden Züge an der Mühlbanzer Kirche vorbei beobachtete und uns Kinder auf die Schnelligkeit, mit der man den Zug sich bewegen sah, aufmerksam machte, wie der Dampf der Lokomotive jetzt hier und nach wenigen Minuten schon an ganz anderer Stelle zu sehen war. Auch die totale Sonnenfinsternis im Jahre 1851 und ein gewaltiger Komet, in der Mitte der 50er Jahre wurden von der ganzen Familie mit Interesse beobachtet und als wichtige Ereignisse empfunden, so daß mir einzelne Szenen aus jener Zeit, wo wir z.B. mit rauchgeschwärzten Gläsern auf die Wiese hinter der Scheune wanderten, um die allmähliche Verfinsterung der Sonne zu beobachten, noch frisch im Gedächtnis sind.

Besonders traurige Ereignisse waren für meine Eltern der Tod ihrer ältesten Tochter Marie, die in Stettin an den Kaufmann Franz Fuhrmann verheiratet war, am 23. November 1866, und der Tod ihres jüngsten Sohnes Richard, der sich in Metz als Degenfähnrich im 45. Infanterie - Regiment, am 17. März 1872, aus Gründen, die niemals ganz aufgeklärt worden sind, erschoß.

Mein Vater, der ebenso wie meine Mutter so gut wie niemals ernstlich krank gewesen war und sich allzeit einer sehr festen Gesundheit erfreute, erkrankte plötzlich im Frühjahr 1876 und mußte sehr gegen seinen Willen sich in ärztliche Behandlung begeben; seine Krankheit war ein Nierenleiden, das bald von dem behandelnden Arzte Dr. Scheele - Danzig als Nierenkrebs erkannt wurde. Eine Badekur in Wildungen, die mein Vater in Begleitung meiner Mutter im Juli 1876 durchmachte, hatte keinen Erfolg. Zwar nahm er noch einmal nach Beendigung der Kur im August 1876 seine amtliche Tätigkeit wieder auf und predigte auch noch an einigen Sonntagen in der Hoffnung, daß, wie er sich ausdrückte, “Kanzelholz, gesundes Holz" für ihn sein werde; aber bald mußte er einsehen, daß seine Kräfte mehr und mehr schwanden, und dem Rate und der Bitte seiner Familie folgend, bat er das Königliche Konsistorium um Versetzung in den Ruhestand. Am Erntefest, den 1. 0ktober 1876, hat er zum letzten Male Gottesdienst gehalten und die Kanzel bestiegen. Es folgte nun ein langes Krankenlager, auf dem er mit großer Geduld und festem Gottvertrauen viele Schmerzen erduldete; nur ab und zu vermochte er unter Anwendung von Morphium für einige Stunden das Krankenbett zu verlassen, und man konnte dann seine alte geistige Frische und sogar die ihm angeborene Heiterkeit sich geltend machen sehen, bis ihn körperlicher Schmerz von neuem zwang, sich niederzulegen.

Am zweiten Weihnachtsfeiertage haben mein Schwager Franz Fuhrmann und ich meinen Vater zum letzten Male in Güttland besucht und gesehen, und rührend war der Abschied, den er von uns nahm. Ich hatte gerade in jenen Dezembertagen die Nachricht erhalten, daß ich zum Direktor einer neu zu errichtenden höheren Lehranstalt zu Osterode in Ostpreußen gewählt worden sei und daß ich zu Ostern 1877 mein neues Amt antreten sollte. Auf einem Lehnstuhle in der Schlafstube", dem nach Nordwesten gerichteten Eckzimmer, an dem Sophatische sitzend, sorgsam eingehüllt in wärmende Decken, besprach er mit mir lebhaft und sachlich die neuen mich erwartenden Aufgaben, und als er die Schmerzen wiederkommen fühlte, bat er mich wohl im Bewußtsein, daß es hienieden der letzte Abschied von ihm sein werde, vor seinem Sessel niederzuknieen, damit er mich segne, was er mit schlichten und einfachen aber um so eindringlichen Worten tat, die auf mich, meine Mutter und Schwager Franz einen tiefen Eindruck machten. Am 29. Dezember 1876 vormittag um 9 Uhr ist mein Vater selig in Gott entschlafen im 69. Lebensjahre, und am 3. Januar 1877 auf dem Friedhof zu Güttland unter sehr großer Beteiligung seiner Gemeinde und seiner Amtsbrüder vormittags beerdigt worden. Am Sarge in Pfarrhaus hielt sein ältester Freund, der Superintendent Pohl, eine Ansprache, in der Kirche predigte der Pfarrer Johannes Schaper aus Wotzlaff (der Wortlaut der Predigt unter Nr.7 der Anlagen), und der Pfarrer Mischke aus Gotteswalde leitete den liturgischen Teil der Trauerandacht. Am Grabe hielt Prediger Hardt aus Osterwick noch eine längere Rede. Er hatte den Verstorbenen in den langen Wochen vor dessen Krankheit häufig im Gottesdienst vertreten, ihn auch sonst vielfach besucht, und die beiden waren sich sehr nahe getreten. Rührend war es anzusehen, wie Prediger Hardt, indem er bemüht war, die Hinterbliebenen zu trösten, kaum den eigenen Schmerz bekämpfen konnte. Er kniff sich in die Hände, um seine Selbstbeherrschung zu bewahren.

Der Text seiner Rede waren die Worte:

Und wer da kam und sahe, daß Ahasiel tod lag,
der stand still!"

Have pia anima!

Meine Mutter Mathilde Pauline Wüst, geb. Bulcke, überlebte den Vater noch volle 17 Jahre und erreichte ein Alter von 83 ½ Jahren. Nach Auflösung des Güttländer Hausstandes siedelte sie nach Danzig über und wohnte anfangs im Fuhrmannschen Hause, Lastadie 40, dem städtischen Gymnasium schräg gegenüber bei ihrer Tochter Hermine Fuhrmann, später bei ihrem Sohne Fritz und ihrer Schwiegertochter Jenny Wüst, geb. Bulcke, in der Heiligen Geistgasse im sogenannten Kaiserhof, wo sie am 15. November 1893 auch gestorben ist; in den Sommermonaten weilte sie alljährlich gerne längere Zeit in Orte bzw. Peterhof bei ihrer Tochter Auguste und ihrem Schwiegersohne Dr. Ferdinand Chomse, dem Besitzer des Majorats Orte - Peterhof im Graudenzer Kreise. Meine Mutter hat nach dem Tode des Vaters noch viel Freude, aber auch viel Leid erlebt: Enkelkinder wurden geboren und wurden groß und die Liebe ihrer Kinder und Schwiegerkinder blieb unverändert und alterte nimmer, aber viele ihrer Lieben gingen ihr im Tode voran: ihre geliebte Tochter Mathilde Chomse, ihr Schwiegersohn Max Chomse in Orle, ihr Sohn Johannes, ihre Schwester Franziska, ihr Bruder Richard u.a.

Noch in hohem Alter war sie tätig und suchte sich, wo ihre Betätigung willkommen war, nützlich zu machen und zu helfen, bis des Alters Gebrechen sich fühlbar machten und ihrer müden Hand der Wanderstab entglitt. Sie ist neben ihrem geliebten Manne auf dem Güttländer Kirchhof begraben, wo sie von des Lebens Unruhe unter schönen schattigen Bäumen ausruht bis zum jüngsten Tage.

Ich liege und schlafe ganz mit Frieden;

Denn allein du, Herr, hilfst mir, daß

ich sicher wohne.

Psalm 4, Vers 9

Preußische Ostbahn

Gütland - Koźliny - Quelle: https://suchy-dab.pl/index.php/o-gminie-top/2.html
Stand 01.2020

Heidrun: Mittig die Kirche, rechts davor das Schulhaus. Das gelbe Haus gegenüber der Kirche könnte meiner Meinung nach an der Stelle stehen, wo früher das Pfarrhaus stand.