Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

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In Halle angekommen wurde mein Vater am 31. 0ktober 1828 durch den Prorektor Professor der Jurisprudenz Christian Friedrich Mühlenbruch in die Liste der Studierenden eingetragen. Es war das die Zeit, in der die Verbindungen unter den Studenten mit argwöhnischen Augen angesehen, in der namentlich die Burschenschaften verfolgt wurden, weil die deutschen Regierungen fürchteten, daß sie ihre Mitglieder zu demagogischen Umtrieben und staatsgefährlichen Taten anreizten. Mein Vater mußte sich daher in Halle und auch zwei Jahre später in Berlin bei seiner Immatrikulation durch Namensunterschrift verpflichten, bei Vermeidung der Relegation und späterem Ausschluß von allen öffentlichen Ämtern sich von jeder Teilnahme an einer “nicht autorisierten" Verbindung fern zu halten.

Interessant ist besonders der Eingang des gedruckten und durch Unterschrift vollzogenen Auszugs aus der für die Königl. Preußischen Staaten publizierten Königl. Bekanntmachung vom 18. Oktober 1819 für die Art der Beurteilung, der man die Burschenschaft damals unterzog. Unter den Anlagen befindet sich dieser Auszug unter der Nr. 14.

Die Wohnung meines Vaters während seines zweijährigen Aufenthalts in Halle befand sich in dem Hause der Großen Klausstraße Nummer 878. Da er mit einem sehr guten Zeugnis 2. Grades cum laude vom Danziger Gymnasium zur Universität entlassen war und er auch einen Nachweis beibringen konnte, daß ihm die Mittel zum Studium fehlten, (Nr.8 der Beilagen) erhielt er gleich im 1. Semester mancherlei Vergünstigungen; vor allem ward ihm die Hälfte des Betrages für die Vorlesungen erlassen. Er

Friedrich Mühlenbruch

belegte im Laufe der vier Semester theologische Collegia bei Tholuck, Ullmann, Thilo und Gesenius und philologisch-philosophische namentlich bei Rosenkranz und Ritschl, von denen jener später in Königsberg, dieser in Bonn und Leipzig zu großer Bedeutung gelangen sollten. Mit wie großem Interesse und mit welchem Fleiße mein Vater seine Studien betrieb, davon legten seine sorgfältig ausgearbeiteten Kollegienhefte rühmliches Zeugnis ab, welche sauber gebunden später einen breiten Raum in seiner Bibliothek einnahmen und von denen ich eines diesem Aktenstück beifüge. Neben der wissenschaftlichen Tätigkeit war es besonders die Musik, die meinem Vater während seiner Studienzeit und auch während seines ganzen Lebens immer in hohem Maße beschäftigte.

Schon in Danzig hatte er als Schüler, wie er oben selbst berichtet, oft Gelegenheit gefunden als Sänger sich zu betätigen; in Halle war es nicht anders. Noch im Winter 1828/1829 wurde er Mitglied der Universitäts-Liedertafel, die unter dem Musikdirektor Staue in hohem Ansehen bei den Hallensern stand (vergl. d. Stammbuchblatt) und von Anfang an fand der hohe lyrische Tenor meines Vaters allgemeine Beachtung, so daß er schon nach einigen Wochen seines Aufenthalts auf der Universität gebeten wurde in einem Konzert in Naumburg mitzuwirken und in diesem Konzert eine größere Partie zu singen hatte und sich seiner Aufgabe unter Beifall entledigte.

Von natürlicher Liebenswürdigkeit, freundlichem Humor und angenehmen Umgangsformen gewann mein Vater in Halle leicht einen größeren Freundeskreis, in dem außer einigen alten Danziger Schulkameraden, dem späteren Superintendenten Pohl in Stüblau und dem späteren Pfarrer Herrmann in Braunsberg sowie dem späteren ersten Prediger von St. Trinitatis in Danzig Wilhelm Blech (im Volksmunde Donnerblech" genannt wegen seines gewaltigen Stimmorgans im Unterschiede zum Pfarrer Blech zu St. Salvator in Danzig) sich namentlich die beiden Theologen Volkart und Blendinger, zwei Bayern, jener aus Lauf bei Nürnberg dieser aus Königsstein bei Sulzbach, sehr nahe an ihn anschlossen, so daß sich für die Drei eine Freundschaft für das ganze Leben heraus bildete, für deren Innigkeit manche Briefe aus späterer Zeit (vergl. Nr.5 der Anlagen) Zeugnis ablegen.

Ganz besonders zeichnete meinen Vater eine außerordentliche Liebe zu Gottes schöner Natur aus, die er auch bis in die letzten Jahre seines Lebens hinein sich bewahrte.

Da ist es denn nicht wunderbar, daß er von Halle aus in den Ferien sowohl allein als auch mit einigen der oben genannten Freunde zu Fuß weite Reisen machte und einen großen Teil von Deutschland zu Fuß durchwanderte. So hat er die nächste Umgebung von Halle, Thüringen, den Harz, das hessische Bergland, den Rhein, den Schwarzwald, die Donau, die Schweiz, das fränkische und das Fichtelgebirge genau kennen gelernt und über seine Erlebnisse und die auf der Reise gewonnenen Eindrücke ein genaues Tagebuch geführt, das diesen Aufzeichnungen beiliegt und gelesen zu werden verdient.

In Jena, das er zweimal besuchte und wo ich, sein Sohn, diese Worte niederschreibe, traf er zu seinem höchsten Erstaunen Studenten, die auf dem Markte ihre Pfeifen rauchten. Wie haben sich die Anschauungen von dem was sich schickt und was nicht geziemend ist, in den Jahrzehnten geändert! Es war in jener Zeit nicht üblich, daß die Studierenden während ihrer Universitätsjahre zu den Ferien in die Heimat reisten; schon aus Mangel an Verkehrsmitteln konnten die weiter wohnenden jungen Leute nicht daran denken, die Ihrigen auf kürzere Zeit zu besuchen. Als daher die zwei Jahre, die für den Aufenthalt in Halle von Anfang an in Aussicht genommen waren, ihr Ende erreichten, siedelte mein Vater unmittelbar darauf nach Berlin über, um auf der jungen Universität, an der damals in der theologischen Fakultät

August Tholuck
Carl Christian Ullmann
Thilo - nicht als Dozent / Professor der Universität Halle aufgeführt
Karl Gesenius
Karl Rosenkranz
Friedrich Ritschl

Siehe auch
Hochschullehrer (Halle (Saale))
der Universität Halle-Wittenberg

und an der philosophischen Schleiermacher, Neander und Hegel lehrten, seine Studien fortzusetzen und abzuschließen. Seine Wohnung war in Berlin an der Spandauer Brücke Nr. 4.

Vom Geiste Tholucks ganz erfüllt, gehörte mein Vater in jener Zeit und wohl auch als junger Geistlicher der strenggläubigen Richtung in der Theologie an. In einer theologischen Arbeit, vielleicht einer Seminararbeit, die sich erhalten hat: ”über die Versuchung Christi" tritt er u.a. Schleiermacher, der die von Matthäus und Lukas erzählte Geschichte für eine Parabel hält, scharf entgegen und erklärt, daß der Christ an einen persönlichen Teufel glauben müsse und daß der Teufel in leiblicher Person Christus versucht habe; ebensowenig wie es einem einfallen könne, die Engel nicht als Persönlichkeiten sich zu denken, ebensowenig dürfe man an der Person des Teufels zweifeln.

In seinen späteren Lebensjahren urteilte mein Vater in theologischen Dingen viel milder als in seiner Jugendzeit; manche Gedanken der freieren Richtung ließ er gelten, obschon er immer der positiven Union, vielleicht der heutigen älteren Gruppe der positiven Union, zugezählt werden mußte, welche Freiheit der Forschung für jeden Theologen und Freiheit der Lehre auf der Universität fordert.

Über den äußeren Gang seines Lebens in den Jahren, welche der Universitätszeit folgten, hat mein Vater in seinen Aufzeichnungen (A) selbst das Wichtigste mitgeteilt.

Friedrich Schleiermacher
August Neander
Georg Wilhelm Friedrich Hegel