Lebensberichte & Familienchroniken

Ernst Leberecht Wüst:
Familienchronik : Über Carl Theodor Gotthilf Wüst
(1808 Danzig - 1876 Güttland)

Pfarrer zu Pröbbernau auf der Nehrung und zu Güttland,
Landkreis Dirschau
- geschrieben von seinem Sohn

12.2019
 

 

Teil 01 Teil 02 Teil 03 Teil 04 Teil 05 Teil 06 Teil 07 Teil 08

Entfernung zwischen Pröbbernau und Neukrug: ca. 20 km

Ich für meinen Teil möchte auch hier nur einige Ergänzungen zu dem geben, was sich auf das Leben meiner Eltern und namentlich meines Vaters in seiner ersten Gemeinde, in Pröbbernau auf der Danziger Nehrung, bezieht, über das uns Kindern später vieles erzählt wurde. Wiederholt bezeichneten die Eltern die Jahre Ihres Pröbbernauer Aufenthalts als die glücklichsten Jahre ihres Lebens und auch als die anregendsten und interessantesten in amtlicher Hinsicht. Daß sie so urteilten, hatte natürlich zum Teil darin seinen Grund, daß sie damals in der Fülle ihrer Kraft standen und mit aufgeschlossenem Sinn die Eindrücke, die sie von außen erhielten, auf sich wirken ließen und auch in ihrer jungen Ehe in ihrem Innern volle Befriedigung und Glückseligkeit fanden. Aber es kam doch auch noch mancherlei dazu. Zunächst waren die Bewohner des kleinen hart an der Küste des frischen Haffs und unweit des Strandes der Ostsee gelegenen, von dieser durch einen schmalen lang sich erstreckenden Kieferwald getrennten Fischerdorfes zwar einfache und wortkarge aber biedere und in ihrer Art wohl unterrichtete Leute, die des Lesens und Schreibens durchweg kundig und bewandert im Gesangbuch, Katechismus und Bibel mit großer Liebe an ihrem Pfarrer hingen und in allen Angelegenheiten, die sie bewegten, sich an ihn wandten. Mein Vater war nicht nur Seelsorger sondern auch Arzt, Rechtsbeistand und Berater in gewerblichen und geschäftlichen Dingen seiner Gemeinde, und das Bewußtsein, hier geholfen und dort gut geraten zu haben, hier als Vermittler zwischen Gemeinde und Regierung, dort als Friedensstifter zwischen feindlichen Nachbaren angerufen und erfolgreich tätig gewesen zu sein mag ihn, den nach Arbeit verlangenden jungen Mann, mit Freude und Zutrauen zu sich und Glücksgefühl erfüllt haben.

Zum Pröbbernauer Kirchspiel gehörten mehrere, zum Teil weit abgelegene Ortschaften, die vom dortigen Pfarrer kirchlich zu versorgen waren, so Liep, Polsk, Rahmet, Langhaken, Kahlberg, das heute so bekannte Seebad und vor allem Neukrug, das eine eigene kleine Kapelle besaß. Davon, wie natürlich und naiv die Leute dieser ärmlichen Ortschaften dachten und empfanden, wie wenig Gefühl sie besaßen für feinere Lebensart, wurden uns, den Kinder, später, als wir schon in Güttland lebten, von den Eltern die merkwürdigsten und lustigsten Geschichten erzählt. Bald nach Beginn seiner amtlichen Tätigkeit in Pröbbemau traf es sich, daß mein Vater an einem Sonntage, während die Glocken zur Kirche riefen, über den Kirchhof der Sakristei zuschritt und an einer größeren Anzahl von Frauen und Mädchen vorbeigehen mußte, die nach einem Marsche soeben an der Kirche angelangt waren. Um vor Beginn des Gottesdienstes ein natürliches kleines Bedürfnis zu befriedigen, bildeten sie an der Kirchenmauer in hockender Stellung eine lange Reihe, hielten es auch nicht für nötig beim Herannahen meines Vaters sich zu erheben, sondern begrüßten ihn ohne sich in ihrem Tun stören zu lassen, in dem sie eine nach der andern die Worte “guten Morgen auch, schöner Herr Prediger" ihm entgegenriefen. Das Wort “schön" bedeutete diesen Leuten immer soviel wie “gut", und meine Mutter nannten sie, um noch ein anderes Beispiel eigenartigen Sprachgebrauchs hier anzuführen, in ihren Gesprächen eine sehr “gemeine Frau", womit sie ihr ein großes Lob spendeten, weil sie das Wort “gemein" in dem Sinne von “allen leicht und gern zugänglich" verstanden. Mein Vater hatte es übrigens nach dem oben erzählten Erlebnis nicht leicht, den Frauen, deren einige er zu sich beschied, klar zu machen, wie unpassend ihr Verhalten auf dem Kirchhof genannt werden müsse; gelang ihm aber doch mit Hilfe meiner Mutter allmählich auch in diesen einfachsten Kreisen die Begriffe von dem, was sich nicht schicke· uns was nicht anständig sei, zur Anerkennung und zur Geltung zu bringen.

Bilder von Pröbbernau

Siehe auch
Heinz Albert Pohl:
Neukrug und Pröbbernau
ein Kirchspiel auf der Nehrung

Ein anderes Mal war bei sehr günstigem Winde den Fischern auf der See eine außergewöhnliche große Menge von Stören in die Netze gegangen, aus deren Rogen ein sehr schmackhafter Kaviar bereitet wird. Der Kaviar war auch diesmal vortrefflich geraten, und nichts erschien natürlicher, als daß der Herr Prediger, der sich allgemeiner Beliebtheit erfreute, ein reichliches Maß davon erhalten sollte. Aber in welchem Gefäß sollte die Gabe dargeboten werden? Da ward Fischer Drud, der gerade nach Elbing zum Markte segelte, beauftragt einen größeren Behälter für besagten Zweck zu erstehen, und was er abends heim brachte, fand allgemeinen Beifall bei Männlein und Fräulein, es war ein Nachtgeschirr aus weißer Fayence. Keiner von den Fischern kannte den eigentlichen Zweck des kleinen Töpfchens, in keinem Haushalte in der Gemeinde hatte jemals solch ein Ding seinen Platz gehabt, alle hielten es ein sehr geeignetes Gefäß für die Aufnahme des dem Pfarrer zugedachten Geschenks, aber wer beschreibt das Erstaunen und Entsetzen meiner Eltern, als ihnen in so absonderlicher Aufmachung der kostbare Kaviar feierlich dargebracht ward? Doch trotz einiger Überwindung und eines anfänglich sich einstellenden Unbehagens hat er ihnen dann, in kleinere Büchsen und Dosen verteilt, gut geschmeckt und ebenso den Danziger Verwandten, die ihren Anteil davon abbekamen.

Wie weltfremd die abseits von aller feineren Kultur wohnenden Gemeindemitglieder von Pröbbernau und den Dörfern auf der Nehrung in jener Zeit, also in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch waren, beweist auch folgendes: In jener Zeit wurde von einsichtigen und wagenden Geschäftsleuten aus Elbing und Königsberg das erste größere Gasthaus in Kahlberg gebaut, das eine kleine Stunde von Pröbbernau entfernt lag, und ein parkartiger Garten wurde vor dem Gasthause angelegt. Das Ganze war die ursprüngliche Form des Belvedere - Anwesens, um welches herum dann später der heute so prächtige Badeort erstanden ist und das damals seinen ersten Gästen für einen Sommer- und Badeaufenthalt seine Pforten öffnete. Um den Garten zu schmücken hatten die Besitzer des neuen Gasthofes eine Apollo- und eine Venusstatue auf einem größeren Rasenplatz aufgestellt, sichtbar für jedermann der des Weges kam und durch das Gitter des Gartens blickte. Da erschienen denn eines Tages Abgeordnete der Gemeinde bei meinem Vater mit dem Ersuchen, daß er seinen Einfluss geltend machen möchte, um das ,,Ärgernis" seiner Beichtkinder, jene heidnischen, nackten und daher unanständigen Figuren in Kahlberg, zu entfernen. Es kostete meinem Vater große Mühe die erregten Gemüter zu beruhigen und ihnen den Wert von Kunstgegenständen, auch wenn sie nackte Körper darstellten, einigermaßen klar zu machen. Immer neue Freude bereitete meinen Eltern, zumal meinem Vater, und trug dazu bei, daß sie sich in Pröbbernau so glücklich fühlten, der Umstand, daß die Gemeinde von großer Kirchlichkeit war.

Sonntag um Sonntag wanderten die Sommerfeldt und Löwner, Gnoyke und Drud, Hildebrandt, Welm und Köhlmann und wie sie alle hießen zum Gotteshause, die Männer in langen Röcken, die Frauen in bestem "Staat", ein Blumensträußchen ("Krietchen" vergl. Kräutchen?) auf dem Gesangbuch. Welch einen frommen und gottesfürchtigen Sinn beweist nicht der Brief des alten Hildebrandt (vergl. Nr.28 der Beilagen), in dem er seinen Pfarrer bittet, ihm besonders lieb gewordene Lieder bei der Abendmahlsfeier singen zu lassen, und in dem er die Hoffnung ausspricht ein immer besserer Christ zu werden. Einen erschütternden Eindruck macht es auf meinen Vater, als er eines Sonntags mitten in seiner Predigt, in welcher er die Gemeinde ermahnt hat, einen Sittlichen gottesfürchtigen Lebenswandel zu führen, von dem alten Fischer Kohnke, der in seinen weißen Haaren der Kanzel gegenüber sitzt, mit den Worten unterbrochen wird "Nu holle Se, scheener Herr Präger, en beten an; dat, was de Herr Präger nu aber seggt hat, datt sale sik de junge Lied ut Langhaken tauirst marken, dat das da beter taugeit. Un nu rede Se man wieder, bester Herr Präger". („Nun halten Sie, schöner Herr Prediger, ein wenig inne, das was der Herr Prediger eben gesagt hat, das sollen sich die jungen Leute aus Langhaken vor allen anderen merken, damit es da besser zu geht. Und nun fahren Sie nur fort, bester Herr Prediger!”). Welche innere Teilnahme haben diese einfachen Worte bewiesen; wie groß war damals und wie unmittelbar die Wirkung der Predigt und wie patriarchalisch das Verhältnis zwischen dem Pfarrer und seiner Gemeinde.

Ich weiß, daß Generalsuperintendent Dr. Sartorius zu Königsberg meinen Vater glücklich pries, als er dieses Begebnis mit dem alten Kohnke aus meines Vaters Munde vernahm, und daß er ihm zu solcher Wirkung in der Predigt Glück wünschte. Unterstützt wurde mein Vater in seinen Bemühungen als Seelsorger und Lehrer seiner Gemeinde von den Lehrern zu Pröbbernau und Kahlberg, Liep, und Neukrug, Pleger und Görsch, die beide trotz beschränkten geistigen Horizonts vom besten Willen geleitet wurden. Ich habe oben schon erwähnt, daß zum Pröbbernauer Kirchspiel eine Filiale gehörte, Neukrug mit eigenem Bethause, schon im Nordosten der Landzunge der Frischen Nehrung gelegen. Alle sechs oder acht Wochen hatte mein Vater die Pflicht am Sonntag dort Gottesdienst zu halten, und ich entsinne mich noch ziemlich genau, welche Vorbereitungen, zumal im Winter, für eine Fahrt nach Neukrug, die manchmal, wenn der Strand nicht fest war, fünf bis sechs Stunden beanspruchte, getroffen wurden. Sonnabend gleich nach dem Mittag mußte aufgebrochen werden, das Fuhrwerk, d. h. der Wagen, war dürftig und unbequem, und die Pferde waren einfache Ackerpferde. Das Abendessen für den Sonnabend und das Frühstück für den Sonntag wurden in eine “Lüschke" (ein aus Bast geflochtener länglicher Korb mit Deckelverschluß) verpackt, und mein Vater, im Winter in einen gewaltigen Pelz gehüllt, der

Die Kirchenglocke von Pröbbernau

Kirche von Pröbbernau
aus Zirkwitz (1940)

Wildschur hieß, nahm neben dem Kutscher, dem Eigentümer des Gespanns, Platz; manchmal, aber doch nur selten und nur in der ersten Zeit der Ehe, begleitete ihn meine Mutter; die Nacht wurde im Schulhause zu Neukrug bei dem Lehrer zugebracht. Rückkehrend war mein Vater gewöhnlich mit reichen Vorräten an Naturalien, namentlich auch an schönen frischen oder geräucherten Fischen versehen.

Wildschur